Stolperstein Adolf Gerst, Pflasteräckerstr. 32, 70186 Stuttgart
Veranstalter: Stolperstein-Initiative Stuttgart-Ost
Adolf Gerst wurde am 10. März 1895 in Stuttgart geboren. Nach sieben Volksschuljahren absolvierte er eine Buchbinderlehre bei der Buchbinderei Otto Mende, ein Familienbetrieb, der seit 1887 bis heute in der 6. Generation familiengeführt existiert.
1913 – 1930 arbeitete Adolf Gerst beim Bankhaus Stahl & Federer in der Buchbinderei und der Registratur mit der Unterbrechung durch seinen Kriegsdienst vom 2.7.1916 bis 28.8.1918 und die anschließende englische Kriegsgefangenschafts bis 17.9.1918. Für seinen Fronteinsatz war Adolf Gerst mit dem EKII und der silbernen württembergischen Verdienstmedaille und dem Frontkämpferehrenkreuz ausgezeichnet worden.
Adolf Gerst heiratete Emilie Illi (1882-1964). Sie bekamen 1925 die Zwillingstöchter Frida und Gretel und 1927 den Sohn Hans. Emilie Gerst arbeitete 1925 – 1935 bei der Textilfirma ISKO in Ostheim. Dieser ebenfalls heute noch existierende Betrieb, gehörte bis zu seiner „Arisierung durch günstigen Kauf“ durch die Konkurrenzfirma Ammann der jüdischen Familien Schmidt/ Levi.
Adolf Gerst arbeitete seit 1930 bei der Barmer Ersatzkasse in der Eberhardstr. 10 als Registraturangestellter. Er gehörte keine Partei an, bezeichnete sich selbst als Sympathisant und Wähler der SPD.
Am 5. August 1943 fertigte SS-Hauptscharführer Schuller aufgrund einer anonymen Denunziation gegen Gerst eine Aktennotiz an, vernahm Zeugen und empfahl schärfste Mittel gegen Gerst. Gersts Kollegin Hedwig Teufel, eine verwitwete Kindergärtnerin Jg. 1909,hatte ihn angezeigt. Am 29. Oktober 1943 wurde Gerst verhaftet, ins Polizeigefängnis Stuttgart II gebracht. Am nächsten Tag unterschrieben Gerichtsassistent Übelmesser und Justizsekretär Knies den Haftbefehl. Albert E.R. Weyersberg, Oberreichsanwalt beim Volksgerichtshof, stellte am 20. März 1944 die Anklageschrift aus.
Am 9. Mai 1944 – knapp ein Jahr vor Ende der NS-Herrschaft – fand die „Verhandlung“ gegen Adolf Gerst vor dem VGH in der Urbanstraße 18 in Stuttgart statt, bei der Vorsitzender Paul Lämmle (1892-1945) zusammen mit Landgerichtsdirektor Dr. Wolfgang Münstermann (1898-1971), Regierungsdirektor Wilhelm Dreher (1892-1969), Generalleutnant Ernst Cabanis (11891-1968), Generalstabsführer Herbert Müller (1880-?) und Karl Figge (1903-1972) am selben Tag das Todesurteil über Adolf Gerst nach § 5 Abs. 1 der Kriegssonderstrafrechtsverordnung zum Tode verurteilt: „…Der Angeklagte Adolf Gerst hat im Jahr 1943 in seiner Arbeitsstätte fortgesetzt defaitistische Propaganda getrieben. Er wird deshalb wegen Wehrkraftzersetzung zum Tode verurteilt. Die Ehrenrechte werden ihm für immer aberkannt…“fällte.
Selbst bei Roland Freisler, dem Präsidenten des Volksgerichtshofs, galt „Meckerei“ nicht als Wehrkraftzersetzung. Ein milderes Urteil wäre also selbst nach den Maßstäben der NS-Justiz möglich gewesen. Zeuge Herbert Fischer, Jg.1927, hatte Gerst als „Meckerer“ beschrieben, Zeugin Paula Epple, Jg. 1905, hatte sich für den Prozess krank gemeldet und Zeuge Richard Köble, Jg. 1901, hatte eher entlastend ausgesagt.
Ehefrau Emilie Gerst richtete sofort am 10. Mai ein Gnadengesuch bei Adolf Hitler, ein weiteres erstellten die 18-jährige Tochter Gretel und ihre Geschwister am 11. Mai. Auch Pflichtverteidiger Dr. W. Knapp stellte ein Gnadengesuch. Auch der Bruder von Adolf Gerst, der Obergefreite der Wehrmacht Wilhelm Gerst, stellt nach der Ablehnung der ersten drei Gnadengesuche am 8. Juni 1944 ein eigenes Gnadengesuch – erfolglos.
Oberstaatsanwalt Hartter teilte dem seit 8 Monaten inhaftierten Adolf Gerst am 21. Juni 1944 die Ablehnung der Gnadengesuche mit, sowie den Zeitpunkt der Vollstreckung des Todesurteils: Juni 1944, morgens 5 Uhr.
In dieser Nacht schrieb Adolf Gerst vermutlich noch einen oder zwei Briefe.
Am Donnerstagmorgen, 22. Juni 1944 wurde der 49-jährige dreifache Vater und Ehemann Adolf Gerst von Scharfrichter Johann Baptist Reichhart aus München im Hof des Landgerichts Stuttgart in der Ulrichstraße mit dem Fallbeil enthauptet. Die Kosten in Höhe von 656,82 Reichsmark wurden der Witwe auferlegt.
Jeder Schritt der Hinrichtung wurde genau protokolliert. Polizeiobermeister Best brachte anschließend Gersts Leiche zum Pragfriedhof, wo sie in einer versiegelten Zelle aufbewahrt wurde. Am 23. Juni 1944 wurde Adolf Gersts Körper im Krematorium eingeäschert. Stadtpfarrer Ernst Lachenmann übernahm unter Aufsicht von Polizeiobermeister Best danach die Einsegnung und Beisetzung der Urne auf dem Gablenberger Friedhof im Beisein der Witwe Emilie Gerst, der drei Kinder und des Schwagers.
Nachwirkungen:
Keiner von Adolf Gersts Richtern und überhaupt keiner der Richter des Volksgerichtshofes wurde jemals verurteilt.
Der Sohn des Scharfrichters Johann Baptist Reichhart begeht 1950 Selbstmord. Scharfrichter Reichhart stirbt am 26.4.1972 im bayrischen Dorfen im Alter von 77 Jahren.
In den Jahren 1924 – 1946 hatte er 3165 Menschen im staatlichen Auftrag hingerichtet, darunter 156 Menschen nach Kriegsende im Auftrag der Alliierten.
250 der von ihm getöteten Menschen waren Frauen.
Von seiner Hand starben am 22. Februar 1943 auch die Geschwister Hans und Sophie Scholl, Mitglieder der Widerstandsgruppe „Weiße Rose“.
1990 beantragt die SPD-Fraktion im Bezirksbeirat die Umbenennung des Hauses am Schmalzmarkt, das in der NS-Zeit als “Haus der Volkstreue” Sitz der NSDAP und Kulisse für zahlreiche Parteikundgebungen gewesen war und das nach Kriegsende verschämt nur noch „Volkshaus“ genannt wurde, in “Adolf-Gerst-Haus” umzubenennen. Die VertreterInnen von CDU und FDP sprechen gegen den Antrag, der dann bei Stimmengleichheit abgelehnt wird.
Oktober 2003: Der Kölner Künstler Gunter Demnig verlegt mit der Stolperstein-Initiative Stuttgart-Ost einen Stolperstein für Adolf Gerst vor dem ehemaligen Wohnhaus der Familie gegenüber der Gablenberger Schule.
2019: Eröffnung der Dauerausstellung „NS-Justiz in Stuttgart“, angeregt von Fritz Endemann, kuratiert von Dr. Sabrina Müller, Haus der Geschichte Stuttgart – erkämpft durch jahrzehntelange, unermüdliche Bemühungen Ehrenamtlicher. Vor dem Gerichtsgebäude werden 3 Gedenkstelen errichtet, auf denen die Namen der 423 Menschen stehen, die in der NS-Zeit im Innenhof des Landgerichts mit dem Fallbeil geköpft wurden.
Dezember 2020: An Adolf Gerst erinnert ein Videoclip der Künstler*innen Boris Burgstaller, Wilma Heuken und Gabriele Hintermeier.
Der Prozess gegen Adolf Gerst vor dem Volksgerichtshof steht im Mittelpunkt des StolperKunst-Hörstücks mit Boris Burgstaller, Wilma Heuken, Gabriele Hintermeier unter der Regie von Christian Werner.
April 2022: Der Podcast „gedenkworte“ für Adolf Gerst – erscheint. Der Text von Gerhard Hiller und Gudrun Greth wurde eingesprochen von Jule Hölzgen und Ramon Schmid, Sprecherensemblemitglieder der Akademie für gesprochenes Wort, umgesetzt und produziert von Hannes Keller.
22. Juni 2024: Die Stolperstein-Initiative Stuttgart-Ost lädt zu einem Gedenken am 80. Jahrestag der Ermordung von Adolf Gerst ein – zunächst am Stolperstein, anschließend im Bürgertreff Gablenberg mit einer Ausstellung und dem Hörstück.
Nachspiel noch nicht beendet: Auch 80 Jahre nach der Enthauptung von 423 Menschen im Hof des Landgerichts in der Ulrichstraße ist es immer noch nicht gelungen, diesen Unrechtsorts durch ein sichtbares Gedenken zu einem Mahnmal zu gestalten. Noch immer dient der Ort, an dem in der NS-Zeit 423 Menschen ermordet wurden als Parkplatz. Hier fehlt bisher ein klares Zeichen der Aufarbeitung, der Würdigung der Ermordeten und des Respekts vor den Gefühlen der Nachfahren steht aus.
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