Woran wir uns heute erinnern, ist die Deportation von Sinti und Roma aus Württemberg und Hohenzollern nach Auschwitz–Birkenau, die am 15. März 1943 von Stuttgart aus erfolgte. Wir erinnern uns daran aus sehr verschiedener Perspektive. Die einen, weil ihre Angehörigen verfolgt, misshandelt und ermordet wurden. Die anderen, weil ihre Angehörigen der Verfolgung, Misshandlung und Ermordung nichts entgegensetzten, vielleicht sogar an einer der vielen beteiligten Stellen in der Verwaltung, bei der Polizei, bei der Justiz indirekt oder auch direkt daran mitwirkten. Im Stadtarchiv Stuttgart und in anderen Archiven lässt sich die tiefe Verstrickung dieser Stellen in die Verfolgung an den Quellen untersuchen. Die Diskriminierung und Ausgrenzung von Sinti und Roma in Europa, in Deutschland, ist alt und hat vor 1933 ebenso existiert wie nach 1945. Viele stereotype Vorurteile lassen sich schon im 15. Jahrhundert nachweisen. Im 19. Jahrhundert erhielt die Diskriminierung und Ausgrenzung eine damals als wissenschaftlich geltende Legitimation durch die entstehende Rassentheorie, die Menschen in unterschiedliche und unterschiedlich wertvolle sogenannte „Rassen“ einteilte. Ein Konzept, das wissenschaftlich nicht haltbar ist, das furchtbare Konsequenzen hatte, und das bis heute nachwirkt.
Unter der Herrschaft der Nationalsozialisten intensivierte und radikalisierte sich die Ausgrenzung und Verfolgung immer mehr. Sinti und Roma wurden entrechtet, interniert, zwangssterilisiert, zur Zwangsarbeit gezwungen, und schließlich ins KZ deportiert und ermordet.
Heinrich Himmler, der Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei, hat im Dezember 1942 die Einweisung aller sogenannten „Zigeunermischlinge“, sogenannter „Rom–Zigeuner“ und Angehöriger sogenannter „zigeunerischer Sippen balkanischer Herkunft“ in ein Konzentrationslager angeordnet. In Auschwitz–Birkenau wurde im Lagerabschnitt B II ein aus 32 Baracken bestehender Bereich B IIe abgetrennt, dort wurde das sogenannte „Zigeunerlager“ eingerichtet. Am 15. März 1943 erfolgte die Deportation der Sinti und Roma aus Stuttgart. Transporte aus Mannheim, Mosbach, Heilbronn und Karlsruhe folgten in den darauffolgenden zwei Wochen.
Ca. 24.000 Sinti und Roma wurden nach Auschwitz–Birkenau deportiert. Als der Bereich B IIe Anfang August 1944 aufgelöst werden sollte, lebten davon kaum noch 3.000. Etwa 1.000 von ihnen wurden in andere Lager deportiert, die übrigen ermordet.
Insgesamt fielen dem Porajmos, dem Holocaust an den Sinti und Roma, noch sehr viel mehr Menschen zum Opfer: bis zu 500.000 Sinti und Roma wurden ermordet. Die Diskriminierung und Verfolgung der Sinti und Roma war mit dem Ende des zweiten Weltkriegs und der nationalsozialistischen Herrschaft jedoch nicht zu Ende. „Wiedergutmachung“ und „Entschädigung“ sind problematische Begriffe, denn wie lassen sich solche Verbrechen wieder gutmachen, wie lässt sich solches Leid entschädigen? Aber für die Sinti und Roma gab es nicht einmal den Versuch einer Wiedergutmachung und Entschädigung, es gab keine Anerkennung des ihnen widerfahrenen Unrechts, des von ihnen erlittenen Leids. Eine Entschädigung konnten Verfolgte erhalten, die aus politischen, rassischen, religiösen oder weltanschaulichen Gründen verfolgt worden waren. Dazu hätten die Sinti und Roma zählen müssen. Der Ausdruck „Zigeunermischlinge“ belegt die eindeutig rassistische Motivation der Deportationen ins Lager Auschwitz–Birkenau. Verwaltung und Justiz der Nachkriegszeit leugneten jedoch die rassistische Motivation und behaupteten, die Verfolgung der Sinti und Roma habe seinen Grund in deren – ich zitiere – „Kriminalität und Asozialität“ gehabt. Die Formulierungen, die sich in Erlassen und in Gerichtsurteilen aus den 1950er Jahren finden lassen, knüpften nahtlos an die NS–Zeit an. Antiziganistische Vorurteile wurden nicht verschämt, nicht unter der Hand oder am Stammtisch artikuliert, sondern höchstrichterlich. Die Entschädigungspraxis wurde so von den überlebenden Sinti und Roma vielfach wie eine zweite Verfolgung erlebt. Erst in den 60er Jahren änderte sich die Rechtsprechung – zu spät für viele Sinti und Roma, die nicht mehr lebten, oder die sich dieser Erfahrung nicht ein zweites Mal aussetzen wollten.
Dr. Katharina Ernst
Direktorin
Kulturamt – Stadtarchiv