Bericht zur Sant’Anna-Reise vom 29.5.bis 3.6.2015
Nachdem am 70. Jahrestag des Gedenkens an das Massaker vom 12. August der deutsche Generalkonsul für Norditalien verkündet hatte, dass die Restaurierung der Cappellina mit 60.000 € aus dem deutsch-italienischen Zukunftsfonds finanziert werden könne, wurden die notwendigen Arbeiten von den regionalen Institutionen zügig in Angriff genommen und schon nach wenigen Monaten abgeschlossen. Am 7. März sollte die feierliche Einweihung stattfinden, zu der auch die Anstifter eingeladen worden waren. Doch ein Orkan, der in der Nacht vom 4. auf den 5. März über die Toskana hinwegtobte, zwang zur Verschiebung: Sant’Anna war wegen vieler umgestürzter Bäume nicht mit dem Auto erreichbar, außerdem waren Strom- und Wasserversorgung unterbrochen. Das Dach der ansonsten unversehrt gebliebenen, neu renovierten Kapelle, war beschädigt worden. Der neue Einweihungstermin wurde letztlich auf den 2. Juni festgelegt, dem Jahrestag der Neugründung der Republik Italien, die zum 1.1.1948 in Kraft trat und die in dem Referendum vom 2. und 3. Juni 1946 ihre gesetzgeberische Grundlage gefunden hatte. Eine Delegation der AnStifter war bereits am 29. Mai in das toskanische Bergdorf gereist, denn am Morgen darauf fand dort eine Tagung statt, die gemeinsam von der Gemeinde Stazzema, der Nationalen Partisanenvereinigung Italiens (ANPI), dem Nationalen Friedenspark Sant Anna di Stazzema und dem Historischen Institut des Widerstandes und der Gegenwart in der Provinz Lucca verantwortet wurde. Es ging um die unzureichende Aufarbeitung der faschistischen Verbrechen während des 2. Weltkriegs in den von Italien besetzten Gebieten unter der Überschrift: „Die Bestrafung der faschistischen Verbrechen in den besetzten Gebieten – zwischen Verschweigen und Vergessen“.
Das frühere Parlamentsmitglied Carlo Carli, das zu denen gehörte, die den sogenannten Schrank der Schande (armadio della vergogna) öffnete, schenkte zu Beginn der Konferenz dem Historischen Museum des Widerstandes in Sant‘Anna seine gesamten Unterlagen des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses, der die Hintergründe des geheim gehaltenen Schrankes der Schande aufzudecken hatte. Er bedauerte die aktuelle Entscheidung der Hamburger Justiz im Falle der erhofften Anklage gegen den mitverantwortlichen SS-Offizier Gerhard Sommer, verwies aber auf die wenigstens von deutschen Politikern und Repräsentanten bedauerten Kriegsverbrechen in den entsprechenden Ländern. Und fügte hinzu, dass dieses seitens Italiens bisher beschämender Weise unterblieben sei. Auch nach Meinung von Bürgermeister Verona, geäußert in seinem Grußwort, schwinde mit der neuerlichen Verfahrenseinstellung in Hamburg die Hoffnung, dass wenigstens in einem Fall in Deutschland eine juristische Auseinandersetzung möglich sein könnte. Dies empfänden viele Opfer als doppelte Bestrafung der eigenen Person.
Am Nachmittag des 30. Mai konnten wir im Gespräch mit Vertretern des Opferverbands (Associazione Martiri Sant’Anna 12 agosto 1944 = AMSA) deren Gedanken, die Erinnerungsorte des 2. Weltkriegs durch Initiativen auch auf europäischer Ebene (Parlament) zu verbinden, kennenlernen und gemeinsam besprechen. Eingangs hatte uns Enrico Pieri seinen Stellvertreter Umberto Mancini vorgestellt. Die beiden nahmen zusammen mit dem Sekretär Graziano Lazzeri von Gunther symbolisch den in Überweisung befindlichen Betrag von 7409,08 € entgegen, den die AnStifter für die Wiederherrichtung der Gedenkorte nach dem Sturmschaden im März gesammelt hatten.
Alle drei bedankten sich sehr herzlich für die Bemühungen der AnStifter und betonten, sie wüssten sehr wohl, wem sie die öffentlichen deutschen Gelder von 56 und 30 Tsd. € zu verdanken hätten.
Umberto Mancini stellte sodann einige seiner Visionen vor: So solle der Friedenspark noch mehr ein Ort der Begegnung werden, auch im Blick der italienischen Greueltaten, vor allem im ehemaligen Jugoslawien, in Griechenland und Afrika.
Sehr bemerkenswert empfanden wir die Schilderungen von AMSA-Mitgliedern, wonach ihre traumatischen Erfahrungen oder die ihrer Eltern meist unbewusst an die nächstfolgende(n) Generation(en) weitergegeben werden. Viele der im Jugendalter lebenden Nachkommen wollen sich nicht intensiver mit den Erlebnissen der Älteren befassen. Sie spüren wohl, was die Schandtaten n den Seelen ihrer Eltern angerichtet haben und wollen sich dagegen schützen. In manchen Fällen seien es auch Angehörige der mittleren Generation, die den Kontakt mit Überlebenden meiden würden.
Der Hauptanlass unserer Reise war schließlich die feierliche Einweihung der kleinen Kapelle auf dem Eingangsplatz von Sant’Anna am 2. Juni. Die Vertreterin der deutschen Botschaft in Rom zerschnitt zunächst das Trikolore-Band und enthüllte die neue Info-Tafel im Inneren, die auf den Geldgeber Bundesrepublik Deutschland in Zusammenarbeit mit den italienischen Partnern im Außenministerium hinweist. Schwestern und Bruder der als Baby getöteten Anna Pardini legten an der Gedenktafel für Anna Pardini Blumen nieder. Die weiteren Reden wurden danach im wenige Meter entfernten Vortragsraum des Historischen Museums des Widerstandes gehalten. Bürgermeister Verona bedauerte erneut die Verfahrenseinstellung gegen Gerhard Sommer, auf die Enrico Pieri anschließend nicht mehr einging. Bereits im August 2014 hatte er sich uns gegenüber skeptisch über die Prozessaussichten geäußert. Für ihn steht die Weitergabe des Wissens und seiner Erfahrungen an die junge Generation im Vordergrund. So hatte er am Vormittag desselben Tages bereits eine deutsche und eine italienische Schulklasse empfangen.
Auf Enrico Pieri folgte der baden-württembergische Kultusminister Andreas Stoch, der von ungeheuerlichen und unfassbaren Verbrechen sprach, angesichts derer man die große Enttäuschung der Überlebenden über die Entscheidungen der deutschen Justiz gut und die Verfahrenseinstellung in Hamburg nur schwer verstehen könne. Die Finanzierung der Gestaltung des Platzes im Eingangsbereich durch das Land könne unter diesen Umständen nur ein Symbol für die Solidarität mit den Opfern darstellen. Zum Abschluss seiner ansonsten auf Italienisch gehaltenen Rede brachte Stoch in zwei persönlichen Bemerkungen zum Ausdruck, dass die Ziehung eines sogenannten „Schlussstrichs“ ein zweites Verbrechen darstellen würde; sichtlich bewegt umarmte er Enrico Pieri.
Der Unterstaatsekretär Domenico Manzione verlas zu Beginn seiner Ausführungen einen Brief des neuen Staatspräsidenten Sergio Mattarella, in dem dieser sehr deutlich für mehr Transparenz in der Politik, Bürokratieabbau und Bekämpfung der Korruption eintritt. Lisel Bisanti nahm in den weiteren Ausführungen des Präfekten u.a. einen Seitenhieb auf die Lega Nord wahr, als Manzione forderte, dass Politiker nicht an die niederen Instinkte der Bevölkerung appellieren sollten.
Nach dieser Rede wurde eine große Anzahl von Kommandanten geehrt, deren oft aus Freiwilligen bestehende Einheiten in relativ kurzer Zeit die meisten Schäden des 5. März repariert und die Hindernisse beseitigt hatten. Zum Schluss erhielten auch die Anstifter Auszeichnungen: Eine vom Opferverband, zu der Enrico Pieri uns vier nach vorne bat, und eine weitere von der Gemeinde Stazzema, die Bürgermeister Verona übergab. Gerne geben wir diese Ehrung und die anschließende Gratulation des Kultusministers an die Gesamtheit der Anstifter weiter.
Wir hatten in den sechs Tagen gute Gespräche und Begegnungen. Das begann schon am Anreisetag, als Graziano Lazzeri uns nach unserer Ankunft in Pietrasanta (21.30 Uhr) noch zu einer Wahlparty der PD lotste, auf der wir auch Enrico Pieri trafen und noch ein warmes Abendessen bekamen. Selbst auf der Heimfahrt am 3. Juni kam es in der Raststätte Bellinzona-Süd noch zu einem kurzen Treffen mit Lydia Wagner und ihrem Cousin Loris Navari, der das Massaker vor 70 Jahren überlebt hat und heute als pensionierter Lehrer in Lugano lebt.
Ein aus unserer Sicht besonders bedeutsames, erkenntnisförderndes Gespräch möchten wir jedoch hervorheben. Hierzu bedurfte es wohl einiger Gläschen Wein zur Lockerung der Zungen auf beiden Seiten. Es kam während unserer Einladung zum Essen am Sonntagmittag zustande. Als wir Enrico Pieri gegenüber andeuteten, dass die Unterstützung religiöser Orte in den atheistisch- und linksorientierenten Kreisen der AnStifter nicht nur Beifall gefunden habe, erhielten wir durch die Reaktion die endgültige Bestätigung unserer bereits am 28. Januar 2014 (dem Tag, an dem Enrico Pieri gegenüber den Anstiftern seinen Wunsch geäußert hatte) entstandenen Vermutung, dass es sich bei der kleinen Kapelle für Enrico Pieri um viel mehr als einen religiösen Ort handelt. Er sagte, er rechne sich politisch der progressiven Seite zu und sei eher kirchenfern, aber was die Erhaltung von Kulturgütern angehe, sei er Traditionalist. So habe er sich schon vor Jahren für die Wiedererrichtung einer Brunnenanlage unterhalb des Dorfplatzes eingesetzt, weil dies früher ein Ort der Begegnung für die Dorfbewohner gewesen sei – der in der Zeit seiner Emigration in die Schweiz nach dem Anschluss aller Häuser an die öffentliche Wasserversorgung leider beseitigt worden war. Das Gleiche gelte für die Kapelle. In ihr wird von nun an auch ein von einer AnStifterin gemaltes Bild seinen Platz finden – eine Kopie eines berühmten Werkes von Antonello da Messina.
Ein Gedanke zu „5. AnStifter-Reise nach Sant’Anna die Stazzema“
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