„Schützt der Verfassungsschutz die Demokratie? Abschied von einer Illusion“ war der Titel einer Diskussionsrunde, die von der BAG Kirche & Rechtsextremismus, der Brandenburgischen Landeszentrale für politische Bildung, Campact und den AnStiftern organisiert wurde und im Rahmen des Kirchentags in Stuttgart am letzten Freitag stattfand.
Untersuchungsausschüsse über die Terrororganisation Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) kamen zu dem Ergebnis, dass eine “aktive Beteiligung” von Behörden am “Aufbau verfassungsfeindlicher Neonazistrukturen naheliegt”. Die Frage war also, ob der Geheimdienst unsere Verfassung wirklich schützt und ob dieser noch zeitgemäß ist. Als Gäste waren Clemens Binninger (MdB, CDU), Dorothea Marx (MdL Thüringen, SPD), Winfried Ridder (ehem. Verfassungsschutz-Mitarbeiter) und Andrea Röpke (Journalistin) anwesend. Obwohl kein Vertreter des Bundesamts für Verfassungsschutzes teilnahm, kam es zu unterschiedlichen Einschätzungen und kontroversen Diskussionen. Moderiert wurde die Veranstaltung von Martina Weyrauch (Leiterin der LpB Brandenburg) und Fritz Mielert (Geschäftsführer der Anstifter).
Clemens Binninger wies daraufhin, dass im NSU-Skandal nicht nur der Verfassungsschutz zu kritisieren sei, sondern auch die Polizei und die Generalstaatsanwaltschaft. Er sprach sich gegen eine Abschaffung des Verfassungsschutzes aus, sondern stattdessen für eine stärkere Kontrolle. Die Abgeordneten des parlamentarischen Kontrollgremiums könnten dessen Arbeit nicht intensiv genug überwachen, da sie noch in anderen Gremien und auch sonst als Parlamentarier tätig sind. Binninger befürwortete die Idee eines ständigen Beauftragten, ähnlich des aktuell eingesetzten Sachverständigen zur Untersuchung über den V-Mann „Corelli“. Eine intensivere Kontrolle habe sowohl für die Öffentlichkeit und die Politik Vorteile, als auch für die Behörde, da sie sich dann nicht ungerechtfertigten Anschuldigungen ausgesetzt sehe.
Dorothea Marx widersprach dieser Idee mit der Begründung, dass die Abordneten hier keine Verantwortung abgeben dürfen. Sie wolle jederzeit selbst die Möglichkeit haben, an alle nötigen Informationen heranzukommen. Ein weiterer Posten würde das Problem der mangelnden Kontrolle und Kontrollmöglichkeiten nicht automatisch lösen. Marx wies daraufhin, dass als Konsequenz aus den desaströsen Zuständen im Thüringer Verfassungsschutz, die durch den Untersuchungsausschuss bekannt wurden, die thüringische Landesregierung das V-Leute-System praktisch abgeschafft hat und nur noch Ausnahmen zulässt.
Winfried Ridder, ehemaliger langjähriger Verfassungsschutzmitarbeiter, kritisierte stark die Behörde. Er bezeichnete den Verfassungsschutz als Experiment, das nach 60 Jahren Arbeit gescheitert sei, weil so gut wie keine Fachkenntnis vorhanden sei. Zivilgesellschaftliche Organisationen und Journalisten hätten bessere wissenschaftliche Methoden und inhaltliche Kenntnis über Rechtsextremismus oder andere Sachverhalte. Scherzhaft schlug er daher Clemens Binninger als Verfassungsschutz-Präsident und Andrea Röpke als Abteilungsleiterin der Abteilung 2 für Rechtsterrorismus vor.
Andreas Röpke lehnte selbstverständlich ab. Sie sprach eingangs nochmals die Skandale und Verwicklungen des Verfassungsschutzes in die NSU-Mordserie an: der Aufbau der Szene in Thüringen, u.a. durch V-Mann „Corelli“, der knapp 300.000 Euro im Lauf der Jahre vom Verfassungsschutz bekommen hat; der beim Mord in Kassel anwesende Verfassungsschutzmitarbeiter Andreas T. und die gescheiterte Festnahme des Terrortrios vor dem Untertauchen, die wohl auch einem beteiligten Polizisten mittlerweile seltsam erscheint.
Sie ging auch auf die provokante Frage ein, warum sie etwas gegen ihre eigene Überwachung habe, wenn sie den Geheimdienst für inkompetent und überflüssig halte. Röpke wurde jahrelang vom Verfassungsschutz Niedersachsen überwacht, obwohl ihr bei einer Anfrage Jahre zuvor das Gegenteil versichert wurde. Sie wies daraufhin, dass andere Journalisten genauso überwacht wurden, die zum Thema Rechtsextremismus recherchieren, und schilderte wie es ihre Arbeit als Journalistin psychologisch beeinflußt, da sie ständig in der Öffentlichkeit oder im Privatleben darauf angesprochen wird und sie nicht weiß, wie weit die Überwachung in ihr Privatleben eingedrungen ist.
Röpke nannte später als weiteres Versagen des Verfassungsschutzes, dass Wissen über Immobilienkäufe von Rechtsextremisten nicht weitergegeben wird. Z.B. ist das „Thing-Haus“ der NPD im Nordwesten von Mecklenburg-Vorpommern eine Anlaufstelle, bei der wöchentlich hunderte Neonazis aus dem ganzen Land anreisen.
Ein Meinungsbild, das nach den Eingangsstatements durchgeführt wurde, ergab, dass die Mehrheit der 700-800 Besucher davon ausgeht, dass es den Verfassungsschutz weiterhin benötigt.
Während der Diskussion konnten die Zuhörer Fragen an die Organisatoren weitergeben, die dann zusammengefasst in die Diskussionsrunde eingebracht wurden. Dabei wurden viele Fragen über die Zuständigkeiten und den organisatorischen Aufbau gestellt. Es wurde geklärt, was eine V-Person ist, und diskutiert, ob es nicht sinnvoller ist, verdeckte Ermittler einzustellen.
Einen Streitpunkt gab es über die Erfolge des Inlandsgeheimdienstes. Clemens Binninger nannte hierbei die Aufdeckung der islamistisch-terroristischen Sauerland-Gruppe und die Verhinderung eines rechtsterroristischen Bombenanschlags auf die Eröffnung des jüdischen Gemeindezentrums in München. Winfried Ridder kritisierte, dass vor allem die Sauerland-Gruppe regelmäßig als Erfolg vorgezeigt wird, dass aber ein oder zwei Erfolge in keinem Verhältnis zum Aufwand und zur sonstigen Arbeit stehen.