Abendrott, Arendt, Suttner, Luxemburg, Scholl, Merkel, Hegel, Herwegh, Schiller, Nietzsche, Kant, Goethe – soll ich wirklich weitermachen? Das ganze christliche Abendland versammeln, nur damit man mir nachweisen kann, wen ich alles vergessen habe? Unsere Toleranz geht so weit, dass wir sogar eine muslimischen Schützenkönig haben, in Werl. Dass aber Toleranz nur die halbe Miete ist, hat schon Marcuse behauptet (auch ein Jude, der Herbert, tät meine Omi Glimbzsch aus Zittau ganz neutral feststellen). Das mit der Toleranz kam zu Beginn der Neuzeit auf, also vor meiner Zeit. Die Idee der Toleranz, behauptete Marcuse, sei ein parteiliches Ziel, verlange subversives, befreiendes Nachdenken – und eine ebensolche Praxis, nach dem Denken. Mehr als Protest also. Gegenwärtig gäbe es keine Macht, so der Ami, keine Autorität, keine Regierung, die eine befreiende Toleranz umsetzen würde. Im Gegenteil! Die praktizierte Art von Toleranz stärke sogar die Macht der zerstörerischen Gewalt, etwa damals in Vietnam, als wir noch für die Lebenden und die Toten auf den Straßen rannten. Vorbei, vorbei!
Herbert Marcuse, was für ein Utopist! Eine Gesellschaftsvorstellung, in der das Individuum frei in Harmonie mit anderen lebt und öffentliche und private Wohlfahrt für alle gewährleistet ist. Ja, es gelte, eine Gesellschaft herbeizuführen, worin der Mensch nicht durch Institutionen versklavt sei. Die gegenwärtig herrschende Toleranz, auch in demokratischen Staaten, akzeptiere eine aggressive Politik, Aufrüstung, Chauvinismus und Diskriminierung aus rassischen und religiösen Gründen.
Haben wir das alles denn nicht längst bei uns, bis hin zu freien Wahlen, einer freien Presse, einer unabhängigen Justiz, einem Taerufvertrag für Lock-Führer, und über allem das Abendland, wie ein Strahlpeter?
Voller Entsetzen und Abscheu schauen wir in diesen Zeiten gemeinsam nach Afrika, Nahost, zur IS, zu den Terrormilizen, die die Heiligtümer alter Religionen, das Erbe der Menschheit zertrümmern. Unmenschen, Tiere, Barbaren, Monster, Folterknechte.
1400 Synagogen im Herzen des Abendlands – gleich nebenan, Herr Nachbar – sind da längst vergessen. Unersetzliche Kunstschätze, Bauwerke, Reliquien, Heiligtümer wurden von den deutschen Horden zertrümmert, in Brand gesetzt, vernichtet, das Eigentum der Menschen gestohlen, konfisziert, die Menschen selbst … aber das wissen wir ja alles als gute Abendländler. Das Telos der Toleranz ist Wahrheit.
Peter Grohmann schreibt sein Wettern der Woche für die Wochenzeitung Kontext – für lau.