Zum 100. Geburtstag von Thaddäus Troll hielt der Schriftsteller Jürgen Lodemann am Montag, den 17. März, auf einen Festakt im Stuttgarter Rathaus die folgende, schöne Rede.
Verehrte Troll-Versammlung,
hier sollte bekannt sein, was Trolle sind. Und wie sie so sind und warum. Dass sie Prüfungen sind. … ein Anders-herum-Geher war er, der Thaddäus.
Und wahrlich notwendig wäre der jetzt. Nicht nur im Schriftstellerverband. Dort hab ich ab 1975 viel mit ihm zu tun gehabt – mit dem Sprachmeister, dem Sprechmeister – in seinen letzten fünf Lebensjahren. So liberal war er wie links wie konservativ, sogar mal „Parteigründer“ („Radikale Mitte“!), gab Anstöße, nicht nur dass ein Schriftstellerhaus entstand in der Kanalstraße, auch fürs Urheberrecht, für Buchpreisbindung, für die Menschenrechte, für not-wendige neu-alte Sichtweisen – fast so etwas wie ein Letzter war er für litérature engagée.
Indignez vous! Empört euch! Ja, für mich war er wie eine Verkörperung von Witz, Widerstand und List, der in kein Museum gehört, sondern verblüffend aktuell ist – jedenfalls kein Dichter als Zierschleife, in unserer Verpackungs-Gesellschaft. Am Weltüberwachungsmarkt.
Im Verband hatte ich mit ihm überraschend eng Kontakt, obwohl von mir nur erst ein Buch existierte, attackierende Sozial-Geschichte aus dem größten deutschen Stadtgebilde, dem Ruhrgebiet, in kaputtem Deutsch. „Wer hört die Karre vorre Tür?“ – „Karre“ meinte in Essen auch Limousinen. Gestirnte – und zu Stuttgarts heutigen Problemen wäre da höchstens zu lesen gewesen: Säpps in Schuld! (Deutschland, deine Ruhrleute). Einer mit Kaputtdeutsch also bekam zu tun mit Schwabens Wortvirtuosem. Und der rühmte plötzlich meine RuhrHure – aber auch der nutzte ab 75 verstärkt Deutsch in der frühesten Wort-Bedeutung: Leutedeutsch.
Und mir wird immer klarer, was der jetzt und hier wünschen würde: Abkehr, Umkehr. Wie ein barocker Bußprediger zog der durchs Ländle, hierorts schäme sich sogar der Schnee, nicht genügend schwarz zu sein. Und auch: Schluss mit Waffen an Diktaturen! Kampagnen hatte der gemacht, mit Grass, Böll, Walser, für den Eintritt der Autoren in Gewerkschaften . Kampagnen für Willy Brandt, für den politischen Sprechmeister, der sie durchschaut hatte, die Gefahr der Dichter, zu enden als (Zitat Brandt) „Randfiguren der holzverarbeitenden Industrie“.
Und ich Anfänger nun vor diesem Wunderbaren, ja, scharfzüngig warer, aber verletzend nie, nirgends schwarzer Donnerstag. Und so was wie „Mappus-Mafia“, das hätte er nie gesagt, dieser Menschenfreund. Es sei denn, die Sachlage hätte es gefordert. Zuletzt nicht mal mehr aufbrausend war er, sondern sanft sachkundig. Mit Röntgenblick, fürs Absurde. Und just deshalb, wie hilfreich wäre der, jetzt, für Stuttgarts VerFahrenheit. Und ich höre ihn ja reden: Würde gegen alle Fakten dieser Schiefbahnhof wirklich realisiert, entstünde für Europa tatsächlich ein Verkehrs-„Knoten“. Ein Infarkt. Als Lachnummer?
Reflektiert hätte er über des Menschen abgründige Fehlbarkeit. Und Hörigkeit. Über auch des Schwaben Genialität im Wegdrängen von Realität. Hätte wohl auch leise gemurmelt: „Fortschrittsbesoffenheit. Sinnvoll nicht mal für die, die sich dran kaputtverdienen.“ Heilandzack, diesen Troll, jetzt benötigte ihn diese Stadt der Trolligen, diesen Meister der Meinungsfreiheit. Was ihm nun wohl einfiele dazu, dass vom Berliner Kanzleramt zwei Milliarden durchgewunken wurden – für zwei Millionen Mehdorn-„Möhrchen“? Oder dazu, was nun alles beim Bayern FC unter dem Teppich bleiben darf, seit der Boss dort die Verlängerung der Ermittlungen so aufrecht abwendete. Ach, Thaddäus.
Er mit seinen Erfahrungen im Südfunk, ich mit meinen im Südwestfunk, da war ständig auszutauschen. Wie sehr ihn immer gefreut hat, dass ich Unterhaltung nur „Untenhaltung“ nannte. Troll ein Ur-Schwabe? Vor laufender Kamera sagte er, er sei „gesamtdeutsch“. Sein letzter Wein, an seinem letzten Tag, war ein französischer. Operierte gern auch mal mit Eidesformeln des römischen Rechts: „Schaden abwenden“! Und mich, den Ruhrpottmann spornte er an. Zum Reden. Bekam plötzlich mehr Stimmen als er, bezog im Autorenvorstand seinen Posten, stieg sogar auf in den PEN, konnte dann ermitteln, wer mich da befördert hatte, der Schwabe den Ruhrpottmann.
Dank Jörg Bischoffs Biographie ist nun vieles nachlesbar, Troll wollte „die Arbeit in jüngere Hände legen“, Rückzug, Nachlassen der Kräfte. Ja, „Depression“. Und das ist meist ein Tribut ans unfassbar Reale, etwa an alles idiotische wechselseitiges Gedrohe, damals mit Wett-Hochrüsten, aber auch das Zusammenlegen von Sendern, mit Rückbau der Kultur-Programme, in Stuttgart wie Baden-Baden. Und in den Aufsichtsgremien der Sender? Inkompetenz. Intendant Bausch für Troll ein Glücksfall. Dagegen mein Schwarzwaldfunk: Wenn da 1945 hoch im Wald über dem Weltbad ein Funkhaus entstand, gegründet von Franzosen und Künstlern – Heinrich Strobel, Carlo Schmid, Alfred Döblin, der erste Intendant ein Hörspielkünstler – dann sollte das doch dort hinten im Wald ein Sender sein für Kultur. Und was wurde daraus? Ein Quoten-Druck-Fehler. Unten-Haltung.
Einig waren wir uns, dass die Sender am Kopf faulten, und das blieb so, wo jetzt wieder Qualitäten weg sollen, die noch von Bert Brechts „Badener Lehrstücken“ stammen: ein Welt-Orchester – weg, Donaueschingen, Brutstätten von Hindemith und Eisler bis Strawinsky, Boulez, Maderna, Nono, Ligeti, Lachenmann undundund – damals hörte er mir geduldig zu, resigniert nickend, was alles mein Literaten-Stammtisch „Café Größenwahn“ mal wieder nicht hatte senden dürfen, Gedichte, von Fried, von Andersch oder dass bei einer kommenden Bundestagswahl von zehn Großdichtern keiner für einen Kanzler Helmut Schmidt war, aber alle zehn gegen Strauß (für Strauß ließ sich einfach kein Schriftsteller auftreiben), auch das sollte prompt nicht über den Sender, war „nicht ausgewogen“.
Für Rundfunkrat Dr. Hans Bayer war „ausgewogen“ identisch mit Langeweile. So was schoben wir uns nun ständig hin und her, Verstöße gegen die Staatsverträge der Sender. Die verlangen „Staatsferne“, und fordern seit je drei Aufgaben: Information, Unterhaltung, Kultur – doch in Stuttgarts Rundfunkrat hatte nachweislich nur einer Kultur-Kompetenz. Geschliffen war der seit 1945 von Werner Fincks satirischer Zeitschrift „Wespennest“, dann vom „Spiegel“, dann von Düsseldorfs Kom(m)ödchen – und wahrlich auch von seinen sechs Jahren als Kriegsberichter, als Opfer und als Techniker der Nazi-Propaganda. Was ihn traumatisiert hat. Überlebt hatte er das „in Angst“, so hat er’s mal kurz seiner Freundin gestanden.
Zu einem Drittel fordern also die Staatsverträge Kultur. Ergo müsste im Sender jeder dritte Aufsichtsrat Entsprechendes vorzuweisen haben, das war uns klar – doch eben jetzt war wieder mal 15 Jahre lang in der SWR-Aufsicht kein Schriftsteller – der Sender also staatsnah, aber sprachfern? Just das sei das Problem, sagte schon Troll und sah die SWR-Aufsicht so wie kürzlich Uwe Seeler die Aufsicht seines HSV, nach sieben Niederlagen. Zitat Seeler: „Ahnungslose kämpfen um den Abstieg“. Genial, hätte Troll frohlockt, der alte Mittelstürmer hatte ja so was von recht: Rundfunkrat wie HSV: „Ahnungslose kämpfen um den Abstieg“. (Uns Uwe meinte natürlich gegen, sagte aber um und formulierte so Wahrheit im Troll-Format.)
Trolls Scharfblick benötigen wir dringend, gut täte der, bitter not, auch anderswo. Obenhalter statt Untenhalter. Typischer Troll-Plot wäre jetzt, dass er erzählte, wie dieser oder jener Bahn-Chef die eigene Bahn – meidet. Zugunsten gestirnter Limousinen. Weil für diese Herren „Energiewende“ eher eine Mär des Mittelalters scheint.
Auch an diesem Montag sind sie hier ja wieder unterwegs, die Natur- und Stadt-Schützer, Wissenschaftler, Unternehmer, Anwälte, Theologen, Ingenieure. Eisenbahn-Liebhaber! Troll hätte gesagt: Nein, das ist keine Politik-Verdrossenheit. Das ist: Politik-Sehnsucht! Höchstens Partei-Verdrossenheit. Denn es fällt schwer, mit ansehen zu müssen, wie da brav ausgelöffelt wird, was andere einbrockten. Und beim Dauergemurmel von Verträgen, die einzuhalten seien (Immobilien-Verträge, Bahnverträge), da hör ich ihn fragen: Wo bleibt der Ausschuss, der dokumentiert, wie die entstanden sind! Befreiende Geschichten wüsste der vom Verträge-Kündigen, weil das Dach unsicher ist, weil der Keller voller Wasser steht, voller Mineral-Wasser? Ja, auch beim Nesenbachwasser wäre er sanft sachkundig, dieser Seifensiedersohn aus Bad Cannstatt, der Genussmensch, der Wahrheit genoss, nicht Mehrheit.
Nicht verletzend, sachgerecht bliebe der und würde erzählen von der Lebensgefahr im viel zu engen Schiefbahnhof. Deutschlands bislang bestfunktionierender Bahnhof vor dem Rückbau zum Nadelöhr? Von 16 auf 8 Gleise? Mit 60 Tunnelkilometern und nicht unter Straßen, sondern unter mehr als tausend bebauten Grundstücken der Trolle! Die Bahnsteige nicht nur zu eng, sondern auch die Neigungswinkel lebensgefährlich. Und dies neue Gutachten? Die Parameter sind längst veraltet, das ist taube Pro-Propaganda. Deutschland, deine Großprojekte. Unter all seiner Lachlust, er war ein Ernster, ein Sozialer, ein Politischer.
Die Bahn rühmt bekanntlich als „West-Ost-Achse der Zukunft“ die schnelle Reise von Paris nach Bratislawa. Bislang bringt zum Glück den rasenden Reisenden immer noch ein wohltätiger Kopfbahnhof kurz zur Besinnung. Ach, wer fürs Kleinliche und Enge ein so geniales Bildwort gewusst hat wie das vom „Entaklemmer“ (der also, ehe ihm auch nur ein Enten-Ei entgeht, seine Tierchen in den Hintern kneift), was wohl wüsste der nun fürs Gegenteil, fürs Vergeuden! Auch dafür, dass auf dieser grandiosen West-Ost-Bahn schier nichts mehr zu sehen sein soll von der wahrlich einzigartigen Stutengarten-Stadt, nicht Fernsehturm, Weinberge, Hochbauten, Riesen-Bäume, sondern ausschließlich Tunnelschwärze.
Tja, wenn jetzt tatsächlich keine Umkehr käme, dann gäbe er ihm vollends recht, dem aufrechten Seeler: Ahnungslose kämpfen um denAbstieg. Ich hör ihn auch fragen, warum kein Regierender die Warnungen des Hermann Scheer nutzt, Träger des alternativen Nobelpreises für Wirtschaft , die Warnung, dass Atomkraft nicht nur die gefährlichste von allen Kräften ist, dauerhaft todesgefährlich, sondern auch die bei weitem teuerste Energie. Fatal un-wirtschaftlich. Weil seit je die Folgekosten weggerechnet wurden. Weggelogen.
Ach Thaddäus, dein letzter Herbst, Herbst 79, das war Dein letzter Literatur-Preis, drei Monate in Soltau bei Lüneburg. King Lear auf der Heide? Auch ich war mehrere Wochen in Soltau. Vom Kampfgelände Fallingbostel dröhnten Panzerschüsse herüber, auchdas kanntest Du. Damals konnte der Osten den Westen 30mal vernichten, der Westen den Osten 40mal.
Und Du kanntest auch „Volks-Ab-Stimmungen“. Wo, so hör ich Dich, bleibt auch da der Ausschuss, der klärt, was denn dem Volk gesagtworden war. Heftig würdest Du Freund Conradi zustimmen: Volksabstimmungen setzen kein Recht außer Kraft, kein Strafrecht, kein Planungsrecht, kein Haushaltsrecht. Auch keine Brandschutzregeln. Aber wie sagte es der Landesvater? Der Käs sei gegessen. Da hör ich Dich ächzen. Derart missratenen Käs, den schluckt man einfach nicht! Als Wirkstoff ist der ver-heerend –auch im Leib der Stadt!
So etwa hätte er’s gesagt, der Genussfreund, der Menschenfreund. In seinem letzten Herbst. Frühe Mühen mit den „neuen Medien“. Und? Die Bilanz? Erfolgsschriftsteller, aber wirkungslos. Noch mehr Mordwaffen an Diktaturen, auch aus dem Ländle. Nirgends ein Umdenken. Sondern Verdrängungsgesellschaft. Thaddäus, Du Andersherumgeher, Du standest ganz oben auf meiner Gäste-Liste fürs „Literatur-Café Größenwahn“, für litérature engagée, für die warstDu einer der letzten fabelhaften Vertreter. „Empört Euch!“ hat kürzlich noch mal einer mit über 90 gerufen, ein Deutsch-Franzose. Doch Du warst plötzlich weg! Wie Dein Vorbild? Wie Tucholsky? Aber so einen wie Dich, den brauchen wir! Dringend – oder aber – könnte es sein, dass Du hier – wenigstens in dieser Stadt – doch noch – lebst?