AnStifterFunken
Die Sendung vom 08.09.2009 (ohne Musik)

Die Anmoderation


Guten Abend. Heute ist der zweite Dienstag im Monat. Zeit für AnStifterFunken im Freien Radio für Stuttgart. Es ist un-ge-fähr 22 Uhr.
Wir haben heute eine ganze Menge vor. Zwei Stunden sind kein Pappenstil.
Ihr hört heute Abend Interviews mit vier Personen: zuerst Elisabeth Stock über ihren Bruder Willi, dann Hanna Polhammer und ihre Behinderung und die Aktiven Behinderten Stuttgart, dann als drittes, Andrea, über eine ungewöhnliche Geburt, und schließlich Harald Habich über die Spur der Erinnerung.
Meinem Bruder Eberhard (Jahrgang 1925!) möchte ich an dieser Stelle besonders danken, weil durch ihn das erste Interview möglich geworden ist. Frau Elisabeth Stock erinnert sich an ihren Bruder Willi, der mit sechs Jahren möglicherweise Opfer der Massentötung schutzbedürftger Menschen im dritten Reich wurde.
Eberhard hatte mich darauf aufmerksam gemacht, dass auf dem Bauernhof in der Nachbarschaft früher ein behindertes Kind gelebt hatte, dass Ende der 1930er Jahre in einem Heim verstarb. Mein Bruder hatte die Telefonnummer von Fr. Stock und rief sie gleich an um zu sehen ob die Dame bereit war, sich mit mir zu unterhalten. War sie. Heute könne man ja über diese Dinge sprechen, sagte sie in dem telefonischen Interview, was ich vorletzten Sonntag mit ihr führen dürfte.
Bei dem zweiten Interview mit Fr. Hanna Polhammer ist mir ein großer Fehler unterlaufen. Nachdem wir zwei Stunden geredet hatten, stellte ich fest, dass ich die Pausentaste nicht gelöst hatte und das Aufnahmegerät nicht einen Piep aufgenommen hatte.
Ich glaube, dass ich aber eine Form gefunden habe, um den Verlust wieder gut zu machen: ich habe eine schriftliche Zusammenfassung nach Art eines Protkolls angefertigt, bin dann zu Fr. Polhammer und habe über die Zusammenfassung ein zweites, kürzeres Interview gemacht, das Ihr gleich in Kombination mit der Verlesung des Protokolls hören werdet.
Das dritte Interview habe ich mit Andrea gemacht. Sie hat jetzt grade Hintergrund-Dienst. Ich hätte gerne gehabt, dass sie heute hier mit mir im Studio ist. Der Dienstplan hat dem aber einen Strich durch die Rechnung gemacht.
In den letzten Jahren begegnen Andrea und ich uns immer mal. Grad neulich Samstags auf dem Wochenmarkt wieder. Was machst Du? Was mache ich. Ach eine Radiosendung? Hättest Du nicht Lust zu kommen? …. Andrea ist eine erfahrene Kinderärztin und arbeitet im Moment in einer großen Klinik nördlich von Stuttgart. Die Geschichte, die sie erzählt, ist für mich eine der Höhepunkte der heutigen Sendung.
Der Schwerpunkt der heutigen Sendung ist die vom 13. bis 16. Oktober stattfindende Aktion „Spur der Erinnerung“. Ein längeres Interview mit dem Geschäftsführer der Aktion, Harald Habich, habe ich am 26. August geführt. Den zweistündigen Mitschnitt habe ich auf die Teile „zusammengedampft“, die mir am interessantesten schienen. Ich habe dabei nicht Spreu vom Weizen getrennt: Harald Habich hätte ohne Mühe auch noch weitere zwei Stunden erzählen können und es wäre mir nicht schwer gefallen, ihm weitere zwei Stunden interessiert zuzuhören. Deshalb werdet Ihr das unbearbeitete, vollständige Interview mit Harald Habich irgendwann im Rahmen der Anstifter-Website die-anstifter.de hören können.
Mein Studiogast heute Abend ist Ismene. Sie wird vielen von Euch dadurch bekannt sein wird, dass sie Schauspielerin und (aktive) AnStifterin ist. Mir war es letzten Samstag vergönnt sie bei einer Lesung im Untertürckheimer ABZ auf dem Saxofon zu begleiten. Warum Ismene heute im Studio ist, erfahrt ihr gleich.
Zum Schluss, wenn noch Zeit sein sollte, hört Ihr im Rahmen der Reihe „Erste Seiten“ einen gelesehen Ausschnitt aus dem 2003 bei Rowohlt erschienenen Buch „Middlesex“ von Jeffrey Eugenides.
Termine werden heute keine angesagt. Ihr habt ja eine wunderbare, aktuelle Website unter „die-anstifter.de“, wo Ihr euch entsprechend informieren könnt.
Eine Sache noch zum Abschluss: Ruft zwischendurch doch einfach mal an. Die Nummer hier im Studio ist die 64 00 444. Und genau wie beim letzten Mal: wenn Ihr nichts sagen wollt, dann lasst einmal schellen für „ja“, „in Ordnung“, „finde ich gut“ und zweimal für „nein“, „was soll das“, „ist Quatsch“, „ich schalte gleich ab“. Erst beim dritten Mal nehmen wir das Telefon ab, um mit Euch zu sprechen. Also: merkt euch: 64 00 444 hier in Stuttgart.
Heute sind hier im Studio Armin an der Technik, Ismene als Gast und ich, für die heutige Sendung verantwortlicher Redakteur. Mein Name ist Burkhard.
Mit anderen Worten: Guten Abend. Heute ist der zweite Dienstag im Monat. Zeit für AnStifterFunken im Freien Radio für Stuttgart. Es ist 22 Uhr und fünf oder sechs Minuten. Ungefähr.

Wir haben heute eine ganze Menge vor. Zwei Stunden sind kein Pappenstil.

Ihr hört heute Abend Interviews mit vier Personen: zuerst Elisabeth Stock über ihren Bruder Willi, dann Hanna Polhammer und ihre Behinderung und die Aktiven Behinderten Stuttgart, dann als drittes, Andrea, über eine ungewöhnliche Geburt, und schließlich Harald Habich über die Spur der Erinnerung.

Meinem Bruder Eberhard (Jahrgang 1925!) möchte ich an dieser Stelle besonders danken, weil durch ihn das erste Interview möglich geworden ist. Frau Elisabeth Stock erinnert sich an ihren Bruder Willi, der mit sechs Jahren möglicherweise Opfer der Massentötung schutzbedürftger Menschen im dritten Reich wurde.

Eberhard hatte mich darauf aufmerksam gemacht, dass auf dem Bauernhof in der Nachbarschaft früher ein behindertes Kind gelebt hatte, dass Ende der 1930er Jahre in einem Heim verstarb. Mein Bruder hatte die Telefonnummer von Fr. Stock und rief sie gleich an um zu sehen ob die Dame bereit war, sich mit mir zu unterhalten. War sie. Heute könne man ja über diese Dinge sprechen, sagte sie in dem telefonischen Interview, was ich vorletzten Sonntag mit ihr führen dürfte.

Bei dem zweiten Interview mit Fr. Hanna Polhammer ist mir ein großer Fehler unterlaufen. Nachdem wir zwei Stunden geredet hatten, stellte ich fest, dass ich die Pausentaste nicht gelöst hatte und das Aufnahmegerät nicht einen Piep aufgenommen hatte.

Ich glaube, dass ich aber eine Form gefunden habe, um den Verlust wieder gut zu machen: ich habe eine schriftliche Zusammenfassung nach Art eines Protkolls angefertigt, bin dann zu Fr. Polhammer und habe über die Zusammenfassung ein zweites, kürzeres Interview gemacht, das Ihr gleich in Kombination mit der Verlesung des Protokolls hören werdet.

Das dritte Interview habe ich mit Andrea gemacht. Sie hat jetzt grade Hintergrund-Dienst. Ich hätte gerne gehabt, dass sie heute hier mit mir im Studio ist. Der Dienstplan hat dem aber einen Strich durch die Rechnung gemacht.

In den letzten Jahren begegnen Andrea und ich uns immer mal. Grad neulich Samstags auf dem Wochenmarkt wieder. Was machst Du? Was mache ich. Ach eine Radiosendung? Hättest Du nicht Lust zu kommen? …. Andrea ist eine erfahrene Kinderärztin und arbeitet im Moment in einer großen Klinik nördlich von Stuttgart. Die Geschichte, die sie erzählt, ist für mich eine der Höhepunkte der heutigen Sendung.

Der Schwerpunkt der heutigen Sendung ist die vom 13. bis 16. Oktober stattfindende Aktion „Spur der Erinnerung“. Ein längeres Interview mit dem Geschäftsführer der Aktion, Harald Habich, habe ich am 26. August geführt. Den zweistündigen Mitschnitt habe ich auf die Teile „zusammengedampft“, die mir am interessantesten schienen. Ich habe dabei nicht Spreu vom Weizen getrennt: Harald Habich hätte ohne Mühe auch noch weitere zwei Stunden erzählen können und es wäre mir nicht schwer gefallen, ihm weitere zwei Stunden interessiert zuzuhören. Deshalb werdet Ihr das unbearbeitete, vollständige Interview mit Harald Habich irgendwann im Rahmen der Anstifter-Website die-anstifter.de hören können.

Mein Studiogast heute Abend ist Ismene. Sie wird vielen von Euch dadurch bekannt sein wird, dass sie Schauspielerin und (aktive) AnStifterin ist. Mir war es letzten Samstag vergönnt sie bei einer Lesung im Untertürckheimer ABZ auf dem Saxofon zu begleiten. Warum Ismene heute im Studio ist, erfahrt ihr gleich.

Zum Schluss, wenn noch Zeit sein sollte, hört Ihr im Rahmen der Reihe „Erste Seiten“ einen gelesehen Ausschnitt aus dem 2003 bei Rowohlt erschienenen Buch „Middlesex“ von Jeffrey Eugenides.

Termine werden heute keine angesagt. Ihr habt ja eine wunderbare, aktuelle Website unter „die-anstifter.de“, wo Ihr euch entsprechend informieren könnt.

Eine Sache noch zum Abschluss: Ruft zwischendurch doch einfach mal an. Die Nummer hier im Studio ist die 64 00 444. Und genau wie beim letzten Mal: wenn Ihr nichts sagen wollt, dann lasst einmal schellen für „ja“, „in Ordnung“, „finde ich gut“ und zweimal für „nein“, „was soll das“, „ist Quatsch“, „ich schalte gleich ab“. Erst beim dritten Mal nehmen wir das Telefon ab, um mit Euch zu sprechen. Also: merkt euch: 64 00 444 hier in Stuttgart.

Heute sind hier im Studio Armin an der Technik, Ismene als Gast und ich, für die heutige Sendung verantwortlicher Redakteur. Mein Name ist Burkhard.

Mit anderen Worten: Guten Abend. Heute ist der zweite Dienstag im Monat. Zeit für AnStifterFunken im Freien Radio für Stuttgart. Es ist 22 Uhr und fünf oder sechs Minuten. Ungefähr.

bauernhof
1939. Eine Zeitzeugin erzählt

Elisabeth Stock ist heute 86 Jahre. Sie lebt in einem kleinen Ort in Norddeutschland. Rund 200 km entfernt vom Niederrhein, wo sie auf einem Bauernhof aufgewachsen ist. Als eines von 8 Kindern.

Einer ihrer Brüder heißt Wilhelm. Oder Willi wie Nachbarn, Bekannte und Familie ihn nennen. Sie erinnert sich daran, dass seine Geburt nicht einfach war. Trotz Hebamme. Im Krankenhaus wurde später Willis Taubheit festgestellt. Das muss 1934 gewesen sein, erinnert sich Elisabeth Stock.

Laufen lernte Willi ungefähr zu gleichen Zeit wir Änne und Helmut; Änne war etwas spät dran, weil sie an der Hüfte operiert worden war. Weil Willi taub war, lernte er nicht sprechen. Trotzdem konnte er sich ganz gut verständlich machen: er gestikulierte. Und dumm war er auch nicht.

Wir haben bei Tisch immer gebetet, weiß die 86jährige noch. Wenn Vater es mal eilig hatte und darauf verzichten wollte, dann bestand Willi auf der ihm liebgewonnenen Gewohnheit und gestikulierte vehement, bis das Gebet gesprochen wurde. Wenn jemand mal nicht an die Butter kam, dann bemerkte Willi das, und schob sie fast schelmisch ein wenig in die richtige Richtung. Er hatte Augen wie ein Luchs, sagt Elisabeth Stock heute. Wir mochten ihn alle sehr.

Außerdem war der kleine hübsch. Mit seinen blonden Haaren und den blauen Augen war es einfach, ihn ins Herz zu schließen. Eine Dame aus der Nachbarschaft, so erzählt Elisabeth, die bei uns immer mal wieder nach Gemüse, Milch oder Kartoffeln fragte, freundete sich mit Willi richtig an. Sie spielte mit ihm und ging mit ihm spazieren.

Irgendwann 1939 oder 1940 kamen zwei Frauen von der Partei. Willi war sechs Jahre. An eine Einschulung, so die beiden Frauen, sei wohl nicht zu denken. Willi könne ja noch nicht einmal sprechen. Das beste sei, so eine der Frauen, dass Willi in ein Heim komme. Die beiden waren mehrmals da, weil meine Mutter das nicht wollte. Und sie hätte das schon überhaupt nicht gewollt, wenn sie gewußt hätte, was passiert.

Ich habe meinem Vater häufig auf dem Feld helfen müssen, sagt Elisabeth Stock. Irgendwann kam ich nach Hause, da war Willi nicht mehr da. Sie hatten den kaum Sechsjährigen in ein Heim im rund 100 km entfernten Bonn untergebracht. Nur über die Dame aus der Nachbarschaft, die sich so rührend um Willi gekümmert hatte und Verwandtschaft in Bonn hatte, wussten wir noch etwas über ihn. Sie besuchte ihn häufig obwohl sie fast ebenso häufig unter zweifelhaften Umstände abgewiesen wurde. Willi könne jetzt keinen Besuch empfangen; Willi schlafe schon; Willi sei krank… . Es schien die Verantwortlichen des Bonner Heims sehr gestört zu haben, dass sich noch jemand für Willi interessierte.

Schließlich verlegten sie ihn in den Taunus. Der Weg bis zum Taunus war auch für die nette Dame zu weit. Als sie Willi trotzdem einmal dort besuchen kommt, wundert man sich, was sie denn noch wolle. Willi? Der liegt doch schon seit zwei Wochen auf dem Friedhof.

„Lungenentzündung“ steht auf der Todesmitteilung, die die Eltern später erhalten. „Lungenentzündung“.

Elisabeth Stock (heute 86 Jahre alt), Schwester von Willy Termat, taubstumm, 6 Jahre, Tod durch „Lungenentzündung“



In Grafeneck wurden nicht „Behinderte“ umgebracht.. (I).

Bei den Vorbereitungen für die Sendung mit dem Schwerpunkt „Spur der Erinnerung“ dachte ich, dass ich doch Behinderte zu diesem Thema befragen muss. Es ist mir doch wichtig nicht über Menschen zu sprechen, sondern mit Ihnen. Und weil ich jeden Tag am Haus der ABS vorbeilaufe  – ABS bedeutet Aktive Behinderte Stuttgart – , war es nicht schwer, diese Überlegung in die Tat umzusetzen. Oder zumindest den ersten Schritt zu tun. Denn schon auf der Türschwelle schien mir die Verbindung zwischen den Behinderten, wie sie in der Tötungsanstalt Grafeneck zu Tausenden vergast wurden, und den heute lebenden Behinderten überhaupt nicht selbstverständlich.

Weil in Grafeneck zwischen Januar und Dezember 1940 10645 Behinderte umgebracht werden, meine ich mit Behinderten sprechen zu müssen. Weil ich mit den Opfern von Grafeneck nicht mehr sprechen kann, suche ich das Gespräch mit Vertretern „derselben Art“. Der Behindertenstatus ist für mich das charakteristische Merkmal der Grafeneck-Opfer. Und erst wenn ich als charakteristisches Merkmal das Behindertsein wahrnehme, empflnde ich es als schlüssig, mit Behinderten über jene Gräueltaten sprechen zu wollen. Diese Wahrnehmung ist aber nichts anderes als eine, sagen wir mal, historisch bedingte Wahrnehmung, die, so empfinde ich es, letztlich die Nazi-Wahrnehmung wiederholt. Denn tatsächlich sind in Grafeneck ja keine „Behinderten“ ermordet worden, sondern Menschen, schutzbedürftige Menschen, bei deren Charakterisierung ihre wesentlich Eigenschaft, das Menschsein, zum Adjektiv degradiert oder ganz weggelassen wurde.

Fr. Polhammer ist Diplom Sozialarbeiterin bei der ABS. Sie hilft anderen Behinderten bei der Formulierung von Anträgen, bei Schwierigkeiten im Umgang mit Nichtbinderten, bei der Annahme und Ablehnung von Hilfe, bei der Bewältigung belastender Lebenssituationen, beim Umgang mit Sexualität; Fr. Polhammer versucht Behinderten Ängste im Kontakt mit Ärztinnen und Ärzten zu nehmen, sie hilft bei Gesprächen mit Eltern, Lehrerinnen und Heimpersonal, und gibt Behinderten Tipps bei der Wohnungssuche.

Und mir erklärt sie, dass man nicht „Behinderter“ sagt, sondern „Mensch mit Behinderung“, was auch unter den Anfangs gemachten Überlegungen tatsächlich ein großer Unterschied ist, denn die Behinderung ist keine Eigenschaft, die das Wesen des Menschen charakterisiert, sondern man HAT eine Behinderung, und wie wesentlich diese Behinderung für den Menschen ist, hängt sehr stark von der Unterstützung oder Behinderung durch die Gesllschaft ab, in der der Mensch mit seiner Behinderung lebt.

Ich verkneife mir die Bemerkung, dass ABS aber doch Aktive Behinderte Stuttgart heißen soll und nicht Aktive Menschen mit Behinderung Stuttgart. Als würde Fr. Polhammer meine Gedanken lesen, erklärt sie mir, dass die Bezeichnung ABS gut 30 Jahre alt ist und man heute eine andere Abkürzung wählen würde.

Die ABS ist eine Einrichtung für Menschen mit Behinderung. Genauso gibt es z.B. Schulen, Heime, Krankenhäuser, Universitäten speziell für Menschen mit Behinderung. Findet damit schon nicht schon eine Art von Ausgrenzung, von Selektion statt, wie sie von den Nazis praktiziert und bis zum Äußersten getrieben wurde?

Ich frage mich, warum wir lieber Treppen bauen, statt Rampen; warum pinkeln wir in engen Bedürfniszellen statt dies in geräumigen Toiletten zu tun, die auch von Menschen mit Behinderung benutzt werden können. Und warum muss ein Behinderter sich für die Zug-Fahrt von Mannheim nach Stuttgart mehrere Wochen vorher bei der Bahn anmelden?

Außerdem praktizieren wir Pränataldiagnostik, um Menschen mit Behinderung erst gar nicht auf die Welt zu lassen.

hannapolhammer

(Fr. Hanna Polhammer vom ABS)

In Grafeneck wurden nicht „Behinderte“ umgebracht….(II)

Fr. Polhammer hat eine Muskeldystrophie, umgangssprachlich „Muskelschwund“. Seit dem 14. Lebensjahr hat sie einen Rollstuhl. Zuerst einen, den sie selbst bewegen konnte; heute ist sie stolze Besitzerin eines Elektro-Rollstuhls, der auf der horizontalen so gut wie jede Bewegung ausführen kann. Der aber auch eine Veränderung der Sitzhöhe erlaubt. Eigentlich ist diese Hubvorrichtung dazu gedacht, um z.B. den Gang auf die Toilette zu erleichern. Zusätzlich verschaffe ihr die höhere Sitzposition aber auch die Möglichkeit, sich bei Ämtern, Banken und Versicherungen etwas mehr Respekt zu verschaffen. „Manchmal meinen die Leute, dass ich mit meiner körperlichen Behinderung auch nicht ganz richtig im Kopf sei“, fügt meine Interviewpartnerin hinzu.

Ich denke mir, dass es also noch einmal ein Unterschied ist, eine geistige Behinderung zu haben.

Jetzt bewegt Fr. Polhammer kurz den vorne auf der rechten Armlehne befindlichen Hebel für eine Demonstration der Hubvorrichtung ihres Elektrorollstuhls. Ich bin beeindruckt und bitte sie, doch wieder runter zu kommen damit wir das Interview fortzusetzen können.

Der Muskelschwund von Fr. Polhammer ist genetisch bedingt. Ihrer Großmutter väterlicherseits wurde die Krankheit mit 36 Jahren diagnostiziert. „Sie habe nur noch ein halbes Jahr zu leben,“ so der Arzt damals; das muss irgendwann in den 1950er Jahren gewesen sein. Die Frau hat sich daraufhin umgebracht.

Ihrer Schwester, der Großtante von Fr. Polhammer, stellte man eine ähnliche Diagnose. Allerdings erst mit über 70 Jahren. Auffällig war vielleicht, dass sich die Großtante schon in relativ frühem Alter beim Gehen eines Stocks bediente.

Ja, sagt Fr. Polhammer, ihre Eltern wussten von dem Risiko der Erbkrankheit. Sie hatten allerdings vor der Schwangerschaft ärztlichen Rat eingezogen. Nein, sagte man ihnen, „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bestünde kein Risiko, dass ihr Kind die Museldystrophie erben würde“.

Der Arzt hatte sich geirrt.

„Geirrt“. Was bedeutet „geirrt“, denke ich bei mir. Hätte der Arzt sich nicht „geirrt“, könnte Fr. Polhammer mir nicht so freundlich und kompetent Auskunft geben. Sie würde nicht leben. „Sich irren“ bedeutet für mich eigentlich etwas Anderes.

Fr. Polhammer meint, dass sie für sich die Entscheidung getroffen habe, keine Kinder zu bekommen. Aber es ist mir nicht ganz klar, ob sie dabei vor allem daran denkt, ihrem Kind Leid zu ersparen – was sie selbst übrigens nicht empfindet – oder ob sie ihre schwindenden Kräfte im Sinn hat und sich vorstellt, dass es ihr in einigen Jahren vielleicht nicht mehr möglich sein wird, ihr Kind zu halten und es in den Arm zu nehmen.

Heute, sagt sie, stellt ein Liter Milch ungefähr die Grenze meiner Muskelkraft dar. Alles, was schwerer oder viel schwerer ist, wiegt für mich zu viel. Wenn ich irgendwo Halt finde oder wenn mir jemand Halt gibt kann ich mich heutzutage noch ungefähr eine Minute auf den Beinen halten. Vor einigen Jahren konnte ich noch meinen festgefahrenen Rollstuhl schiebend aus einem Schlammloch befreien.

wald

Fr. Polhammer ist für P.I.D. PID bedeutet Präimplantationsdiagnostik. Das ist ein Verfahren, das in Deutschland verboten ist. Es bezeichnet, so erfahre ich im Internet bei Wikipedia, verschiedene Untersuchungen zellbiologischer und molekulargenetischer Art, die dazu dienen, Embryone, die außerhalb der Gebärmutter erzeugt werden, auf bestimmte Krankheiten zu untersuchen. Wäre diese Methode in Deutschland erlaubt, sagt Fr. Polhammer, könne sie sich vorstellen, Kinder zu bekommen. Sie fügt hinzu: „ganz persönlich kann ich das nur sagen. Für mich“.

Pränatale Diagnostik lehnt Fr. Polhammer für sich eher ab. „Für sich“, und wieder macht sie deutlich, wie wichtig es ihr ist, dass dies ihre eigene, persönliche Meinung ist.

Erkenntnisse, die sich aus vorgeburtlichen Untersuchungen ergäben, brächten für sie einen größeren Gewissenskonflikt mit sich. Man müsse ja bedenken, so führt sie aus, dass bestimmte, im Körper vorgenommene Untersuchungen während der Schwangerschaft unter Umständen das werdende Leben selbst schon gefährden

oder

erst nach dem dritten Monat (12. Woche) durchgeführt werden können.

Zu dieser letzten Methode gehört die so genannte Amniozentese, die im Zusammenhang mit der Feststellung des Downsyndroms durchgeführt wird. Wikipedia schreibt dazu, dass die Amniozentese „in der Regel“ AB der 13. Schwangerschaftswoche durchgeführt wird. Also eine Woche nach Ablauf der ersten drei Schwangerschaftsmonate.

Erst ab der 20. Woche (das ist ungefähr der 5 Monat) wird die Nabelschnurpunktion eingesetzt. Und hier im entsprechenden Fall eine Schwangerschaft abzubrechen, fände Fr. Polhammer fast unmöglich. Bei jeder Frühgeburt, die nur etwas später zur Welt kommt, stellt man die medizinische Versorgung doch gar nicht mehr in Frage. Und eine Schwangerschaft soll zum selben Zeitpunkt wegen eine bestimmten Diagnose abgebrochen werden können?

Medizinisch spricht man von einem Fetozid. Und im Internet finde ich bei Wikipedia die Ergänzung, dass nach deutschem Recht die Möglichkeit besteht, eine Schwangerschaft aus medizinischer Indikation in jedem Stadium zu beenden, wenn durch eine Lebendgeburt des Kindes die seelische oder körperliche Gesundheit der Mutter gefährdet würde.

Ich denke, dass es nicht einfach ist, hier eine richtig Entscheidung zu treffen. „Richtig“, was bedeutet „richtig“?

Meine Gesprächspartnerin fügt noch hinzu, dass Pränataldiagnostik darüber hinaus eine von diesen Dingen sei, mit denen Menschen mit Behinderung auch heute bezüglich ihres Lebensrechts immer mal wieder konfrontiert werden.

Grade im Zusammenhang mit dem Downsyndrom hat man manchmal das Gefühl, dass das Recht auf Leben zwar unbestritten ist, dass aber das Ausrufungszeichen hinter diesem Satz manchmal verdammt nach einem Fragezeichen aussieht.

World of Warkraft: barrierefrei


Krankenhaus
(eine Kinderärztin)

Andrea erzählt von einer besonderen Geburt

Andrea ist seit vielen Jahren Kinderärztin. Seit fast zwei Jahren arbeitet sie in einer großen Klinik nördlich von Stuttgart. Ich hätte gerne gehabt, dass sie heute hier im Studio ist. Ihr Dienstplan – sie hat jetzt grade Hintergrund-Dienst – hat das aber nicht zugelassen. Damit ihre Einstellung und Erfahrung aber trotzdem heute zu hören sind, haben wir uns letzte Woche in der Roten Kapelle getroffen. Der Tag war warm, abends hatte es aber angefangen zu regnen. In der Roten Kapelle, im Stuttgarter Westen, kann man draußen oder drinnen sitzen. Der Regen, der grade über Stuttgart niederging, störte uns beide aber nicht und die großen Schirme boten ausreichend Schutz.

Das Thema unseres Gesprächs ist nicht einfach, es geht um Pränataldiagnostik, um die medizinische Untersuchung eines menschlichen Lebewesens vor der Geburt. Bei der Geschichte, die Andrea erzählt, stirbt ein Kind, aber die Geschichte ist trotzdem eine schöne Geschichte.

Andrea erzählt von der Geburt eines kleinen Mädchens mit zwei lebensgefährlichen Schädigungen: einer Chromosomenstörung und einem Herzfehler. Die Eltern erhalten die nicht einfache Diagnose nach dem dritten Schwangerschaftsmonat. Sie hätten sich innerhalb der Möglichkeiten einer Spätabreibung ganz legal gegen das Weiterleben des Embryos entscheiden können. Mutter und Vater entscheiden sich jedoch für die normale Geburt. Sie stellen nur eine Bedingung: das Kind soll, wenn es auf der Welt ist, keine kurative, sondern eine paliative medizinische Versorgung erhalten; das Kind soll nicht künstlich am Leben gehalten werden, es soll aber auch nicht leiden, wenn es stirbt.

Das kleine Mädchen kommt auf die Welt und wird von Andrea getauft. Das geht auch ohne Priester. Es erhält einen Namen. Andrea sagt, das sei wie eine Begrüßung und hilft später, sich an die Kleine zu erinnern. Jede Person hat einen Namen. Und der Name ist in der Geschichte, die Andrea erzählt, eine Spur für die Erinnerung.


ismene

Ismene, Gast im Studio, erzählt von Lin (I)

Harald Habich, Geschäftsführer der „Spur der Erinnerung“

Ein ganzes System war erforderlich….

Die Zusammenarbeit zwischen der Öffentlichen Verwaltung und T-4

Die Errichtung eines Sonderstandesamtes in Grafeneck

Das Stigma der Behinderung und das fehlende Interesse an der Biographie der Opfer

Jede Gesellschaft muss ihre Art und Weise finden, wie sie bioethische Fragen löst.

Die Behandlung bioethischer Fragen in Expertenzirkeln

Das Problem der pränatalen Diagnostik

bkh

(Burkhard, der „verantwortliche“ Redakteur)

Über Peter Grohmann

Peter Grohmann, Jahrgang 1937, Breslauer Lerge, über Dresden auf d' Alb, dann runter nach Stuttgart: Schriftsetzer und Kabarettist, Autor und AnStifter gegen Obrigkeitsstaat und Dummdünkel. Mitgründer: Vom Club Voltaire übers undogmatische Sozialistische Zentrum, vom Theaterhaus zu den AnStiftern. Motto: Unruhe ist die erste Bürgerinnenpflicht. Was ärgert Grohmann? Alle, die den Arsch nicht hochkriegen, aber dauernd meckern. Und an was erfreut er sich? An Lebensfreude und Toleranz

4 Gedanken zu „AnStifterFunken: Die Sendung vom 08.09.2009 (ohne Musik)

  1. Ich habe mir gestern die letzte Sendung vom 08.09.09 angehört und ich muß sagen, sie hat mich sehr berührt. Burkhard, das hat Deutschlandradioqualität! Schön wäre es, wenn noch mehr Leute in den Genuß kämen, zuzuhöhren. Die Redaktionssitzung am Montag, 28.09.09 ab 19 Uhr findet im Theaterhaus-Restaurant statt. Für Neue: einfach bei der Bedienung nach Armin fragen. Und noch ein Hinweis in eigener Sache: auf http://www.amokfisch.de findest du meinen persönlichen Wahlvorschlag… Armin Fischer

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  3. Danke für den Beitrag. Ich konnte die Aufzeichnung leider nicht mehr finden, ist ja auch schon ein Weilchen her. Dieser Artikel mit den weiterführenden Links ist sehr interessant. Das Thema der Präimplantationsdiagnostik ist in Deutschland nicht wirklich bekannt. Auch ich werde mich über diese Thematik jetzt etwas schlau machen. Grüße aus dem Allgäu

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