Ich erreiche am 19. April 2013 mit der Bahn frühmorgens Pietrasanta. Enrico Pieri holt mich ab: Mit seiner Ape, seinem motorisierten Lastentier. Mein Koffer landet auf der Pritsche, darauf schon das vorbestellte Fahrrad. Ab in die Pension Villa Elena in Forte di Marmi. Enrico fragt kurz, ob alles gut gegangen ist im Nachtzug. Er lädt eigenhändig ab. Ich bin angekommen.
Kurze Pause. Wir starten nach Valdicastello. Natürlich mit der Ape. Sie kennt bereits die Strecke Pietrasanta – Valdicastello Centro – Valdicastello Oliveto – Sant’Anna und zurück in- und auswendig. Für Enrico Alltag.
Enrico stoppt. Er gibt mir den Auftrag, beim Musikalienhändler eine Zeitung zu kaufen. Hier gibt es wirklich alles für alle. Ich frage Enrico , welche Zeitung denn. Seine Instruktion: Die UNITÁ.
Die Unità gab es seit 1924. Sie war das das offizielle Organ der Kommunistischen Partei Italiens bis zu deren Auflösung 1991. Das Blatt existierte mit Unterbrechungen weiter noch bis 2017.
Gegenüber das Geburtshaus des italienischen Dichters und Schriftstellers und Dichters Giosuè Carducci, geboren 1835. Träger des Nobelpreises für Literatur 1906. Der Literaturprofessor, Teil des gehobenen Bildungsbürgertums, ein Reaktionär? Enrico, nach seinen eigenen Worten selbst minimal gebildet, klärt mich auf: Der Mann war
Atheist, Freimaurer, Anhänger der Republik …
Weiter geht’s zum Lokal eines Arbeiterclubs, Treffpunkt zu fast jeder Tages- und Nachtzeitzeit, Ort für den kurzen Espresso, den Blick in die Tageszeitung – oder das Studium der Sportgazetten. Und für den Austausch über Alltägliches, Fußball und Politik. Noch wenig los, Enrico ist mit allen gut bekannt. Sein Freund und Mitstreiter Enio
Mancini trifft auch ein. Freudige Begrüßung.
An den Wänden Konterfeis von Che Guevara, programmatische Plakate der ARCI, ein Freizeit- und Kulturverein mit politischem Anspruch: Frei denken, solidarisch handeln. Über den Bildschirm gehen die Sportprogramme von Sky und den Berlusconi-Sendern.
Für mich ein Flashback der besonderen Art zu den Debatten über den Eurokommunismus der Siebziger-Jahre, speziell den Weg der KPI. Sie brachte scheinbar Unvereinbares zusammen: Pro Parlamentarismus, contra Kapitalismus.
Enrico hat nie vergessen, woher er gekommen ist. Er fühlte sich zeitlebens an der Seite der „kleinen Leute“. Vor allem auch derer, die in den Bergen hinter Pietrasanta in bitterer Armut gelebt hatten und nicht nur in Sant’Anna durch die deutschen Kriegsverbrechen in noch tiefere Existenzkrisen gestürzt worden waren. Für ihn gehörten Gerechtigkeit im rechtlichen und im sozialen Sinne untrennbar zusammen.
Weiter mit der Ape zu Enricos Oliveto: Sein Olivenhain ist sein zweites Zuhause, sein persönliches Paradies. Hier kann er schweigen, hier kann er reden, mit den Katzen, vielleicht auch mit den knorrigen Olivenbäumen, die gelegentlich Menschengestalt anzunehmen scheinen.
Ohne viele Worte zu machen, arbeiten wir ein paar Stunden zusammen, ich grabe um, er pflanzt, gießt und erntet. Frische Zitronen, reines Olivenöl, aromatischer Honig landen in meinem Reisegepäck.
Es ist Mittagszeit: Auf dem Weg nachhause besuchen wir noch verschiedene befreundete Handwerker und Künstler, so auch ein Atelier, in dem Marmorskulpturen hergestellt werden. Enrico , der Sohn eines Minenarbeiters, ein wenig stolz im Dialog mit dem Meister. So werde ich am nächsten Tag noch einen Kunst-Metallgießer und den Chef eines Marmorsteinbruchs kennenlernen …
Zum Mittagessen gibt es Polenta und Rotwein, schon vorher zur Begrüßung und nach dem Espresso Fiorenzas selbstgemachten Limoncello.
Nach kurzer Mittagsruhe bringt uns die Ape hoch nach Sant’Anna. Dort warten schon viele junge Leute auf ihn. Stets wie zum ersten Mal erzählt er seine Geschichte vom 12. August 1944: Wie die Waffen-SS brüllend das Haus der Familie stürmte und alle seine Angehörigen (und weitere Personen) erschoss. Wie er sich mit Hilfe eines Mädchens verstecken konnte und überlebte. Wie er damit zurechtkommen musste, im Alter von zehn Jahren als einziges Familienmitglied überlebt zu haben.
Er zeigt den Schüler*innen sein Elternhaus. Inzwischen hat er es der Gemeinde Stazzema geschenkt, um dort eine Begegnungsstätte für Jugendliche einzurichten.
Wir besuchen die Gedenktafel für Enricos Familie oben am Ossario. Am 12. August 1944 hatte Enrico seinen Vater Natale, seine Mutter Irma, im vierten Monat schwanger, und seine beiden Schwestern Luciana und Alice verloren.
Später spricht er vor und mit einer weiteren Gruppe Jugendlicher. Das Besondere daran: Mit ihm zusammen tritt der Militärstaatsanwalt Marco de Paolis auf. Dieser hatte den Prozess gegen zehn Täter in La Spezia auf den Weg gebracht. Er ist auf vielen Gedenkveranstaltungen anwesend und zeigt den Überlebenden und Hinterbliebenen nicht nur von Sant’Anna seine Solidarität. Davon konnten wir in Baden-Württemberg nur träumen.
Enrico verabschiedet alle persönlich mit Handschlag. Übrigens redet er stets frei, ohne Manuskript. Vor Schüler*innen, Studierenden und Professoren, auf Veranstaltungen mit vielen Menschen. So auch 2013 vor 800 Leuten in Stuttgart oder vor Staats- und Bundespräsidenten in Sant’Anna und Rom.
An diesem Tag feiert Enrico seinen 79. Geburtstag. Gäste kommen und gratulieren. Es wird gefeiert im Arbeiterclub in Valdicastello. Es gibt Spaghetti Aglio e Olio.
Enrico bleibt auch hier, wie in seinem ganzen Leben, ein bescheidener Mensch. Dadurch und mit seiner menschlichen Wärme sowie seinen scheinbar einfachen, aber werthaltigen Botschaften erreicht und beeindruckt er viele, besonders junge Menschen außerordentlich – nicht nur für den Augenblick.
Danke, Enrico – und leb wohl!
Eberhard Frasch
10. Dezember 2021
Alle Fotos: Eberhard Frasch