LIEBE GÄSTE,
ich war/bin als Tourist in Hamburg, war gut unterwegs und hab in einem kleinen Hotel im Schanzenviertel gewohnt – von wo aus ich auch spät nachts noch vom Balkon aus die unschönen Ereignisse verfolgen konnte. Mithilfe meines Taschentelefons hab ich ein paar Notizen gemacht:
Samstag, 8. Jul, am Morgen.
Die Antwort auf die Frage, was ich von geplünderten Supermärkten und ähnlichen Aktionen halte, erfordert nicht besonders viel Denkarbeit. Und eine Distanzierung hat kaum mehr Inhalt als etwa das Statement, Waffen seien unter Umständen gesundheitsschädlich und deshalb abzulehnen. Distanzierung von Zerstörung ist keine Haltung, die Mut oder Engagement voraussetzt – also einfach und mühelos.
Nach ein paar Stunden Schlaf im Schanzenviertel, wo noch lange der Hubschrauber über unserer Herberge kreiste, weiß ich so gut wie nichts über die Gründe und Ursachen der Randale, nichts über die Menschen, die daran beteiligt waren/sind. Von „Anarchie“ zu reden ist nicht erhellend, weil es viele unterschiedliche Anarchie-Theorien gibt, auch die der gewaltfreien.
So gesehen beginnt jetzt der schwierige Teil der Antworten: Wie, wo und warum entsteht diese Art von Gewalt? Wer und wie viele stecken hinter dieser anscheinend neuen Dimension von Gewalt? Was haben die Täter für Motive für Zerstörungen, die ein Aktivist der Roten Flora laut „Spiegel online“ als „sinnbefreit“ bezeichnet. Haben sie dafür – meinetwegen abstruse – Begründungen? (Ich spreche nicht von Rechtfertigungen.)
Und welche Rolle spielen in diesem Chaos die Absichten und Strategien der Politik und der Polizei? Warum musste G20 mit aller Gewalt nach Hamburg? Nur aus logistischen Gründen, wie Schäuble behauptet?
Man fordert jetzt wie immer härtere Strafen und die gewaltsame Schließung autonomer Zentren. Die Aufklärung wird mehr Denk- und Forschungsarbeit verlangen als Verlautbarungen und Distanzierungen. Aber Aufklärung, diese Binsenweisheit sei erlaubt, muss kein freudloser Akt sein. Bin z. B. gespannt, wie unsere guten Satiriker reagieren werden.
Samstag, 8. Juli am Abend.
Heute war ich mit Freunden sechs Stunden auf der Hamburger G20-Demo. Zigtausend Menschen, zahlreiche internationale Initiativen, bunte und friedliche Aktionen, starke Musik, gute Reden – aber diese Art Protest auch bloß zu erwähnen oder gar zu rechtfertigen, das ginge dann doch zu weit.
Freitag, 7. Juli, am Abend.
Der Soundtrack des Kapitalismus ist der dröhnende Groove der Hubschrauber, befeuert von den Soli der Sirenen. Dieser Kakofonie der Polizeikapellen lausche ich seit Stunden gratis.
Freitag, 7. Juli, später Abend.
Ich staune über alle, die eine klare Meinung zu den Ereignissen in den Straßen von Hamburg verbreiten: Sie haben den Code der Surrealität geknackt und die Masse Mensch in ihre Einzelteile zerlegt. Unsereins geht in der lärmenden Unübersichtlichkeit mit dem Gedanken herum, schon deshalb auf der richtigen Seite zu sein, weil er keinen Hubschrauber hat.