Erst im Januar diesen Jahres brachte der „Womens March on Washington“ über drei Millionen Menschen weltweit auf die Straße, gegen Rassismus und für demokratische Rechte – ganz in der Tradition der Bürgerrechtsbewegungen der 1960er Jahre. Heute versammeln sich wieder weltweit tausende Menschen, nämlich für freie Wissenschaften und gegen Verdummung, etwa durch „Fake News“. Die „Marches“ der Bürgerbewegungen, das Marschieren, bedeutet: nicht still sitzen zu bleiben und zuzuschauen, wenn Menschenrechte und Demokratie von Populisten und ihren Geldgebern bedroht werden, sondern: sich in Bewegung setzen.
Aber: Was soll es heißen, sich für Wissenschaft in Bewegung zu setzen? Wenn der „Wert der Wissenschaften“ betont wird, dann ist damit auch unser aller Vermögen angesprochen, die Welt unabhängig von vermeintlich höheren Mächten, von Göttern und Götzen zu begreifen und gemeinsam zu gestalten.
Das alte Versprechen wissenschaftlicher Tätigkeit lautet: Befreiung aus Unmündigkeit. Wer dagegen „Fake News“ und Propaganda in die Welt setzt, um Meinungsbildung zu manipulieren, will das Gegenteil, nämlich: Unmündigkeit herstellen, um sich selbst als Macht zu etablieren.
Aber: Die Wissenschaft gibt es ebenso wenig wie es etwa den Menschen gibt. Wissenschaft ist weder neutral noch wertfrei. Fake News, also die gezielte Manipulation und Beeinflussung von Meinungen der Bevölkerung, sind zum Teil selbst ein Produkt wissenschaftlicher Forschung. Der wichtigste Geldgeber Donald Trumps zum Beispiel, der Hedge-Fonds-Manager Robert Mercer, bezahlte neben vielem anderen das Institut „Cambridge Analytics“, einen Ableger der britischen Gesellschaft „Strategic Communication Laboratories“. Wissenschaftlich erforscht wird dort auch die Beeinflussung internationaler Wahlen. Und unter der Bezeichnung „strategische Kommunikation“ beschäftigen sich Wissenschaftler unter anderem damit, wie sich Bürgerbewegungen am besten niederringen lassen.
Ebenso wenig, wie es die Wissenschaft gibt, gibt es neutrale Fakten, die von objektiven Experten aufgesammelt und in unabhängigen Einrichtungen gleichberechtigt ausgewertet werden würden. Wer das vertritt, der erhebt vermeintliche Experten in den Stand der Allwissenden. Expertenwissen aber wird auch dazu benutzt, etwa Abgaswerte von Autos zu manipulieren oder mittels Banken Steuerbetrug zu organisieren. Gerade Expertenwissen versetzt Bürger oft gezielt in den Stand derer, die die Sprache der vermeintlich Wissenden nicht verstehen – ähnlich jener mittelalterlichen Prediger, die sich gegen die Übersetzung ihrer Texte aus dem Lateinischen in die Sprache der Leute wehrten. Nicht selten fürchten Experten, dass das was sie tun von den Leuten verstanden wird.
Der universelle Anspruch, der mit wissenschaftlichem Tun ursprünglich verbunden war, Transparenz und vor allem: Öffentlichkeit, ist vielerorts aufgegeben. Wissenschaftler hängen über Drittmittel am Tropf der Industrie. Die alten Prinzipien wissenschaftlicher Forschung wie Öffentlichkeit und ein Wirken für die Allgemeinheit, werden etwa durch Auftragsforschung bedroht, denn Forschungsergebnisse sollen oft geheim gehalten und letztlich privatisiert werden. Gleichzeitig wird seit der Bologna-Reform zu fachspezifischem, eindimensionalen Denken aufgefordert, nicht zu einem Denken in fächerübergreifenden, universellen Zusammenhängen. Studierende rennen eher Leistungs-Punkten hinterher, anstatt kritisch Fragen zu stellen. Diese Haltung, die auch ein Ergebnis der Ökonomisierung der Wissenschaften ist, verhindert ein Denken in Zusammenhängen und sie verhindert letztlich die Entfaltung unseres grundlegenden Vermögens: Urteilsbildung.
Die Alternative ist nicht eine zwischen Populismus oder Expertokratie. Denn Populisten vernebeln die Wirklichkeit durch Fake News und Propaganda; Experten glauben oft, ihr wissenschaftliches Wissen sei mehr Wert als das Erfahrungs- und Alltagswissen der Leute.
Gegen den Populismus extremistischer Sekten, seien sie religiös oder politisch motiviert, beruft man sich gern auf die Tradition der europäischen Aufklärer. Es war nicht zuletzt Immanuel Kant, der deutlich machte, welche Wissenschaft sinnvoll ist. Er schrieb: „Ich würde mich unnützer finden als die gemeinen Arbeiter, wenn ich nicht glaubte, daß…[das, was ich tue] allen übrigen einen Wert erteilen könne, [nämlich] die Rechte der Menschheit herzustellen.“ Diese „gemeinen Arbeiter“ sind ein Sinnbild für jene Männer und Frauen weltweit, die wegen ihrer Hautfarbe oder Sexualität diskriminiert und verachtet werden, die wegen ihres Geschlechts erniedrigt werden, die verlassen im Hamsterrad der Selbstoptimierung herumrennen oder die – weil sie zufällig in einem bestimmten Teil der Erde oder einem bestimmten sozialen Milieu geboren wurden – für Hungerlöhne ausgenutzt werden.
Die drängendste Frage, die sich nicht nur Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern heute stellt, lautet: Wie können wir die Welt gemeinsam so gestalten, dass alle Menschen zu ihrer Würde – und das heißt auch: zu ihrem Recht – gelangen? Diese Frage greifen etwa die public sciences auf, die sich um eine wieder öffentliche Form der Wissenschaft, eine transparente Wissenschaft für und mit der Allgemeinheit, bemühen. – Setzen wir uns dafür in Bewegung!
Rede von Dr. Annette Ohme-Reinicke zum „Science March“,
Stuttgart 22. April 2017, Schlossplatz