Lieber Jürgen Grässlin, verehrtes Publikum,
es ist mir eine Ehre und Freude, am heutigen Internationalen Tag der Menschenrechte die Laudatio auf Jürgen Grässlin halten zu dürfen. Nicht nur der Preisträger, zu dem ich gleich komme, auch der Preisverleiher ist etwas sehr Besonderes. Die umtriebigen AnStifter bringen mich Berlinerin zum Staunen mit ihrem Ausmaß an ehrenamtlich geleisteter Veröffentlichungs-, Veranstaltungs- und Bildungsarbeit. Das erscheint mir mehr, als die dicken fetten parteinahen Stiftungen mit ihren gutbezahlten Angestellten in der Hauptstadt hinkriegen. Hinzu kommt das einmalige Modell, dass jeder Mitstifter und jede Spenderin graswurzelig-basisdemokratisch mitabstimmen darf, an wen der Stuttgarter Friedenspreis verliehen werden soll. Dieser geht seit 2003 an Menschen und Projekte, die sich in besonderer Weise für Frieden, Gerechtigkeit und Solidarität engagieren.
Nach zwei Abstimmungsrunden stand fest: Dieses Jahr bekommt ihn, ich zitiere jetzt verschiedene Medien: „Deutschlands bekanntester Rüstungsgegner“ (so die ZEIT), „Daimlers schärfster Widergänger“ (SPIEGEL), der „Frontmann der Friedensbewegten“ (Stuttgarter Zeitung), „Deutschlands wohl profiliertester Rüstungskritiker“ (SWR-Landesschau). Oder, was mir persönlich besonders gut gefällt: „Der Mann, der Furcht verbreitet unter den Herzenskalten“ (nochmals SPIEGEL).
Um was geht es hier eigentlich? Um eine Schlüsselfrage der Menschheit. Um es in nüchternen ökonomischen Zahlen auszudrücken: Der „Weltfriedensindex“ taxierte die durch Kriege und Gewalt verursachten Kosten für die Menschheit im Jahr 2014 auf fast 10 Billionen US-Dollar. Das entspricht über 11 Prozent des Weltinlandprodukts.
Diese „Todeskosten“ setzen sich zusammen aus der Zunahme der Todesfälle durch Bürgerkriege, die steigende Anzahl von Binnenflüchtlingen, den Anstieg der internationalen Flüchtlingshilfe, die Kosten für UN-Friedenseinsätze sowie steigende Ausgaben für Militär und Waffen. Letzere haben inzwischen einen Umfang von ungefähr 1,47 Billionen Euro – 210 Euro pro Menschenkind. Und genau 1,47 Billionen zuviel.
Nun, nach dem Trump-Triumph, werden es wahrscheinlich noch mehr. Mit all diesem Geld könnte man wahrscheinlich die dringendsten Menschheitsprobleme auf einen Schlag lösen.
Laut der „Aktion Aufschrei – Stoppt den Waffenhandel“, deren Bundessprecher Jürgen Grässlin heißt, ist Deutschland heute der viertgrößte Rüstungsexporteur, bei den Kleinwaffen sogar der zweitgrößte. So hat es etwa an das bitterarme Algerien eine Fregatte im Wert von fast einer Milliarde Euro geliefert – wozu?
Noch verheerender wirken die Kleinwaffen in Krisenregionen, sie sind die wahren Massenvernichtungsmittel von heute. 90 bis 95 Prozent aller Kriegsopfer sterben durch Kleinwaffen. Entweder auf der Straße oder aber auch in ihren eigenen vier Wänden, weil parallel zu Bürgerkriegen auch häusliche Gewalt extrem ansteigt. Nach den Recherchen von Jürgen Grässlin sind global ungefähr zwei Millionen Menschen durch Waffen made by Heckler & Koch getötet worden.
Nach deutschem Gesetz darf zwar nicht in Krisenregionen geliefert werden, in denen Menschenrechte verletzt werden. Aber jeder, der sich ein wenig mit der Materie auskennt, weiß, dass diese Waffen andere Wege in solche Regionen finden und am Ende beim IS in Syrien landen oder anderen blutrünstigen Gesellen. Die einzige echte Lösung lautet hier: Die Waffen dürfen erst gar nicht produziert werden. Punkt. (Hören Sie auch gerade das empörte Protestgeschrei und Läden-Zuklappen aus dem Heckler & Koch-Produktionsort Oberndorf? Dort gilt unser Preisträger als der „meistgehasste Mensch im Ort“).
Nun komme ich zur Person Jürgen Grässlin. Der Name „Jürgen“ ist eine ältere deutsche Nebenform von „Georg“. In der christlichen Überlieferung steht der Heilige Georg für Tapferkeit und Nächstenliebe.
Laut dieser Legende wurden Menschen in Kappadokien von einem Drachen tyrannisiert. Sie opferten ihm täglich zwei Schafe. Als das Ungeheuer alle Schafe gefressen hatte, wollten sie ihm Menschenopfer darbringen. Das Los fiel auf die Tochter des Königs. Da kam Georg zu Hilfe und tötete den Drachen mit seiner Lanze.
Nun, Jürgen-Georg Grässlin ist meines Wissens nicht heilig. Und auch nicht militant. Ganz im Gegenteil. Aber wenn man den feuerspeienden gepanzerten Drachen als Allegorie auf echte Panzer und Kriegsgerät sieht und die Lanze als die Waffe seines Bleistiftes, dann stimmt das Gleichnis wieder.
Die Herkunft des Nachnamens Grässlin wiederum ist nicht so recht klar, er scheint „Gräslein“ zu bedeuten. Ich finde, das passt recht gut: Der Hl. Georg von der Graswurzelrevolution.
Geboren wurde Jürgen Grässlin 1957 in Lörrach. Drei Jahre später zog seine Familie nach Freiburg um, wo er mit kleinen Unterbrechungen bis heute lebt. Er studierte dort an der Pädagogischen Hochschule und arbeitet seit 1982 bis heute als Realschullehrer für Deutsch, Geografie und Kunst. Das ist ein Vollzeitjob. Daneben ist er Ehemann, Vater, Opa, Freizeitmaler, aktiver Fußballfan, akribischer Rechercheur und Archivar, Bundessprecher der Deutschen Friedensgesellschaft-Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen, der Kritischen AktionärInnen Daimler, des Deutschen Aktionsnetzes Kleinwaffen Stoppen, des RüstungsInformationsBüros und wie erwähnt der Kampagne Aktion Aufschrei-Stoppt den Waffenhandel undundund…
1994 und 1998 kandidierte er für die Grünen für den Bundestag, verließ die Partei aber wegen ihrer Zustimmung zum Kosovo-Einsatz der Bundeswehr. Seit 1994 schreibt er ein Buch nach dem anderen. Seine hochgelobte Biografie über den Daimler-Vorsitzenden Jürgen Schrempp wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt, die über Ferdinand Piech war ebenfalls ein Bestseller, genauso wie „Das Daimler-Desaster“. In „Versteck dich, wenn sie schießen“ gab er den Opfern deutscher Waffenexporte eine Stimme. Zuletzt erschienen das „Schwarzbuch Waffenhandel“ und das Enthüllungsbuch „Netzwerk des Todes“.
My goodness, wie schafft der Mann das alles? In einem Interview verriet er, dass er nachts nur viereinhalb Stunden schläft. An den Wochenenden, wo ordentliche Bürger erbauliche Sonntagsspaziergänge machen, hockt er auf Friedenskonferenzen herum. Und in der Ferienzeit, in der brave Studienräte an Stränden und in Kunstmuseen ihre Erholung zelebrieren, reist er in die Türkei, nach Somalia, Kenia oder andere Kriegsschauplätze der Welt, um mit überlebenden Opfern deutscher Kriegsprodukte zu sprechen. Somalia habe ihm die Augen geöffnet, sagte er einmal. Dem Hungertod und dem Gewehrtod sei er dort begegnet.
Man könnte meinen, dass das Anrennen gegen den scheinbar unbesiegbaren riesenhaften Panzerdrachen den Hl. Georg von der Graswurzelrevolution bitter macht. Das Gegenteil ist der Fall. Das laute Lachen des Jürgen Grässlin ist berühmt und macht ihn wohl auch widerstandsfähig gegenüber dem Grauen, auf das er bei seinen Recherchen immer wieder stößt. Den Humor hat er nie verloren. In einem Interview der Badischen Zeitung wurde er gefragt, ob er einen Waffenschein besitzt. Antwort: „Klar, für Wasserspritzpistolen“. Ein anderer Interviewer der „Süddeutschen“ dachte wohl, er hätte seinen wunden Punkt gefunden.
Er hatte unseren Preisträger nach einem „dunklen Kapitel“ seiner Vita gefragt, weil dieser mit 19 bei der Bundeswehr war. Dessen Antwort: „Das dunkelste Kapitel insofern, als dass ich in vollständiger Finsternis lernen musste, das G3-Gewehr auseinander- und wieder zusammenzubauen.“ Er sollte auch auf Silhouetten mit Schlitzaugen schießen. Im Gegensatz zu Günther Oettinger hatte er aber partout nichts gegen Chinesen – und zack, vier Monate später war er raus aus der Bundeswehr.
Wenn ich jetzt alle seine Aktivitäten aufzähle, dann sitzen wir bis übermorgen früh noch hier, und Sie sind alle sauer auf mich und schmeißen mich vom Podium. Deshalb muss ich mich jetzt auf sein letztes Buch beschränken: „Netzwerk des Todes – Die kriminellen Verflechtungen von Waffenindustrie und Behörden“. Er schrieb es zusammen mit Daniel Harrich und Danuta Harrich-Zandberg. Es erschien 2015 parallel zur ARD-Dokumentation „Tödliche Exporte“ und macht exemplarisch seine investigative Vorgehensweise deutlich. Das Gesamtprojekt wurde mit dem Grimme-Preis für besondere journalistische Leistungen ausgezeichnet.
In diesem Buch finden sich jede Menge vertrauliche Dokumente, die den Rechercheuren offenbar von gewissensgepeinigten Insidern zugespielt wurden, über die Exportpraktiken der vier bedeutendsten deutschen Waffenhersteller: Sig Sauer in Eckernförde, Carl Walther in Ulm und Arnsberg, Fritz Werner in Geisenheim und Heckler & Koch in Oberndorf. Sie zeigen, wie deren Produkte in Regionen landen, in die sie laut Gesetz wegen andauernder Menschenrechtsverletzungen nicht geliefert werden dürfen.
Tausende von Sig-Sauer-Pistolen tauchten jedoch im Bürgerkriegsland Irak auf. Fritz Werner und Heckler & Koch bauten eine G3-Sturmgewehrfabrik in Myanmar auf, damals noch Militärdiktatur. Die Generäle ließen mit den G3 1988 Tausende protestierender Studierender erschießen. In der sudanesischen Hauptstadt Khartum wurde eine ähnliche Fabrik gebaut, deren Produkte bis heute die Kriege in ganz Ostafrika befeuern. In der sudanesischen Provinz Darfur terrorisierten Janjaweed-Reitermilizen die Bevölkerung mit G3-Gewehren. Ein ähnliches Bild ergibt sich in Kolumbien, wo der blutige Bürgerkrieg jahrzehntelang auch mit deutschen Waffen ausgetragen wurde. Oder in Mexiko, dessen mit der Drogenmafia und der organisierten Kriminalität verbandelte korrupte Polizei mit Waffen made in Oberndorf ausgestattet wurde.
Eine der vielen schrecklichen Folgen: Im September 2014 wurden 43 junge Lehramtsstudierende in der mexikanischen Stadt Iguala durch Polizisten und Kriminelle verschleppt und massakriert. Ein weiterer Student, Julio César Mondragón, wurde später mit schwersten Folterspuren tot aufgefunden – offenbar mit einem Gewehr von Heckler & Koch erschossen. Und noch einer, Gutiérrez Solano, wurde von Polizeischüssen am Kopf getroffen und liegt seitdem im Koma. Er wird nunmehr durch das renommierte European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) anwaltlich vertreten. Der Ausgang ist offen.
Im Buch ist detailliert nachzulesen, wie diese Waffendeals eingefädelt und trotz menschenrechtlicher Bedenken am Ende von den zuständigen deutschen Ministerien erlaubt wurden. Weil das Auswärtige Amt fürchtete, dass deutsche Waffen in mexikanischen Unruheprovinzen wie Chiapas auftauchen könnten, wurden auf dem Papier „ruhige“ und „friedliche“ Bundesstaaten konstruiert, in die man bedenkenlos Kriegszeugs liefern könne. Entsprechende „Endverbleibsvermerke“ für die Gewehre wurden in Mexiko einfach gefälscht – unter den fest zugedrückten Augen deutscher Behörden. Hauptsache, der angebliche Endverbleib einer Waffe stimmt auf dem Papier. Was in der Realität passierte, interessierte dann offenbar niemanden mehr. Vor-Ort-Kontrollen gab es jedenfalls keine.
Jürgen Grässlin hat deshalb schon 2010 zusammen mit seinem Tübinger Anwalt Holger Rothbauer 15 Personen von Heckler & Koch und den zuständigen Bundesbehörden angezeigt. Der Ehrgeiz der Stuttgarter Staatsanwaltschaft, mögliche illegale Aktivitäten im Wahlkreis des mächtigen CDU-Bundestagsfraktionschefs Volker Kauder vor den Kadi zu bringen, hielt sich jedoch sehr in Grenzen, um es vornehm auszudrücken.
Im ersten Halbjahr 2017 soll der Prozess nun wohl beginnen. Die Ermittlungen dauerten sechseinhalb Jahre – warum? Angeklagt sind meines Wissens jetzt nur noch fünf Mitarbeiter des Rüstungskonzerns, mögliche Straftaten von Bundesbeamten sind jetzt verjährt. Was für ein Zufall!
Der staatsanwaltliche Ehrgeiz scheint sehr viel größer zu sein, wenn es gegen die Skandalaufdecker Grässlin & Co geht. Im April 2016 nahmen die drei Buchautoren überrascht zur Kenntnis, dass wegen Verdachts auf verbotene Veröffentlichungen aus einem laufenden Ermittlungsverfahren gegen sie ermittelt wird. Auch hier soll der Prozess wohl im ersten Halbjahr 2017 beginnen.
Wenn ich es juristisch richtig verstanden habe, sollen sie doch tatsächlich die von ihnen selbst recherchierten Dokumente nicht mehr veröffentlichen dürfen, weil die inzwischen Teil eines Ermittlungsverfahrens geworden sind. Wenn das Gericht dem folgt, dann können investigative JournalistInnen ihren Job an den Nagel hängen. Dann muss ein Staatsanwalt nur noch pro forma ein Ermittlungsverfahren einleiten, und schon ist den RechercheurInnen das Maul zugebunden.
Ich hab deshalb mit Freuden zur Kenntnis genommen, dass Jürgen Grässlin zur Not bis in die letzte Instanz ziehen will, um diesen Skandal im Skandal aus der Welt zu schaffen. Er hat darin ja Übung, er hat auf diese Weise schon Jürgen Schrempp furchtbar geärgert und juristisch in die Knie gezwungen. Der wollte diesem grässlichen Grässlin bestimmte kritische Aussagen verbieten. Der Bundesgerichtshof befand jedoch, die seien durch die Meinungsfreiheit gedeckt.
Ein anonymer Mitarbeiter von Heckler & Koch hat nun Ende November gegenüber dpa angekündigt, dass der Konzern nur noch „saubere“ Nato-Länder beliefern wolle. Ich habe mich zuerst sehr gefreut, das zu hören. Es wirkte ein großer Sieg für Jürgen Grässlin – er hat ja schon sehr viele Erfolge erringen können. Doch leider scheint es sich um ein Täuschungsmanöver gegenüber der Öffentlichkeit zu handeln. Denn fast zeitgleich genehmigte der geheim tagende Bundessicherheitsrat neue, von Heckler & Koch beantragte Waffen- und Munitionslieferungen an die menschenrechtsverletzenden Regierungen in Indonesien, Malaysia und Südkorea.
Rüstungsexport ist oft Beihilfe zum Mord“, schreibt die DFG-VK in ihrer Zeitschrift „Zivilcourage“ und bildet die „Neuner-Bande“ des Bundessicherheitsrates auf dem Cover ab: Merkel und ihre MinisterInnen Gabriel, Schäuble, Steinmeier, von der Leyen, de Maizière, Maas, Müller und Altmaier. In der Titelgeschichte erinnert unser Preisträger daran, dass Vizekanzler Gabriel 2013 mit dem Versprechen antrat, Rüstungsexporte von der Menschenrechtslage im Empfängerland abhängig zu machen. Resultat: Sie wurden massiv erhöht. Kriegsgerät geht an solche Menschen- und Frauenfreunde wie Saudi-Arabien, Algerien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Irak und die Türkei – und von dort aus weiter auf die Schlachtfelder in Syrien, Jemen und dem kurdischen Teil der Türkei.
Ich bin darum sehr froh, dass Jürgen Grässlin weiterhin die Machenschaften der Rüstungskonzerne ans Tageslicht zerrt. Er ist überzeugt davon, dass eine andere, friedliche Welt ohne Waffen möglich ist. Dazu ein Zitat der großen Anthropologin Margaret Mead, das auch auf ihn zutrifft: „Zweifle nie daran, dass auch eine kleine Gruppe überzeugter Menschen die Welt verändern kann. Tatsächlich war es immer so“ – auch dank Menschen wie unserem mutigen Hl. Georg dem Panzertöter und den unzähligen, hier versammelten FriedenskämpferInnen, die ihn unterstützen und so denken und handeln wie er.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Ute Scheub, geboren 1955 in Tübingen, promovierte Politikwissenschaftlerin, Mitbegründerin der taz und deren Umweltredaktion, lebt als freie Journalistin und Autorin, in Berlin.