Für vergangenen Dienstag hatte die Friedrich Ebert Stiftung unter dem Titel „Soziale Gerechtigkeit im 21. Jahrhundert“ ins Stuttgarter Kulturwerk geladen. Anlass war die Debatte rund um die Thesen des französischen Wirtschaftswissenschaftlers Thomas Piketty.
Eine Dreiviertel Stunde lang nahmen sich Hagen Krämer von der Hochschule Karlsruhe und Jan-Ocko Heuer von der Berliner Humboldt-Universität Zeit, den schätzungsweise 200 Menschen im Publikum den aktuellen Stand in Sachen Ungleichheit in der (deutschen) Gesellschaft und ihre Wahrnehmung in ebendieser nahezubringen.
Schwerpunkt von Hagen Krämer waren die Einkommens- und Vermögensverhältnisse in Deutschland, bei denen er eine unterschiedliche Wahrnehmung on Bevölkerung, Medien und Wissenschaft diagnostizierte. Er beschäftigte sich intensiv mit der Messung von Ungleichheit, verwarf die wohl momentan bekannteste Methode, den Gini-Koeffizienten, als unbrauchbar, da er Veränderungen an den Rändern, d.h. extreme Armut und extremen Reichtum, nicht abbilde, stellte verschiedene Alternativen (Betrachtung von Dezentilen, Palma-Index & Lorenzkurven) vor und stürzte sich anschließend auf die praktische Betrachtung der Ungleichheit hierzulande.
Laut Krämer ist aus den vorliegenden Zahlen zu entnehmen, dass bis ca. 1995 alle Einkommensgruppen mit einem jährlichen Wachstum von drei Prozent rechnen konnten, sich dies aber in der Folge verändert hat: Zwischen 1995 und 2010 mussten die unteren 90 Prozent mit Einkommensverlusten von 1,2 Prozent jährlich leben und es fand eine starke Umverteilung von unten nach oben statt. Bis 2007 sind auch die Reallöhne gefallen; seitdem verzeichnen sie wieder Wachstum, was im internationalen Vergleich aber noch nicht wieder zu einer Angleichung geführt hat.
Noch ungleicher als Einkommen sind hierzulande die Vermögen verteilt. Die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung besitzen 60 Prozent des Vermögens (oberstes Prozent: 33% des Vermögens, oberstes Promille: 16%) während die untersten zehn Prozent Schulden, das zweite und dritte Dezentil keinerlei Vermögen haben und auch bei einer Betrachtung der untersten 50 Prozent noch nicht wirklich von Vermögen zu sprechen ist. Diese Stärke der Ungleichheit sei in der EU einmalig. Auf den Plätzen zwei und drei lägen Österreich und Zypern.
Piketty hat die Entwicklung der Ungleichheit historisch betrachtet und festgestellt, dass sowohl in den USA als auch in der EU die Ungleichheit bis ca. 1910 größer wurde, danach in den USA bis 1935 und in der EU bis 1970 abnahm um seitdem wieder zuzunehmen.
Ein wichtiger Aspekt, der laut Krämer von Piketty nicht stärker beleuchtet wird, ist die Frage der Erbschaften. In Deutschland werden pro Jahr ca. zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts vererbt, in Frankreich 15 und in Großbritannien acht Prozent.
Krämer sieht den größten Handlungsbedarf in der Gewinnung der Deutungshoheit gegenüber einer gemeinsamen Front aus Mainstream-Ökonomie, Leitmedien und Teilen der Politik, einer nennenswerten Vermögens- und Erbschaftssteuer für alle Vermögenden und einem Ausbau des Wohlfahrtsstaates.
Vor welchen Schwierigkeiten die Reduzierung der Ungleichheit in Deutschland steht, erläuterte Jan-Ocko Heuer. Zwar würden immer noch 82 Prozent der Befragten der Aussage zustimmen, dass die Ungleichheit mittlerweile zu groß sei, doch sinke die Zustimmung zu dieser Aussage – obwohl sie objektiv zunähme. 76 Prozent unterschreiben, dass das Ausmaß der sozialen Ungleichheit der wirtschaftlichen Entwicklung schade. Diese Zustimmung ist laut Heuer überraschend, da in der Öffentlichkeit eine wirtschaftsliberale Sicht dominiere und die Meinung bestünde, dass Ungleichheit Leistungs- und Investitionsanreize schaffe.
Zur Frage, warum sich trotz der Wahrnehmung der Ungleichheit bislang so wenig ändert, stellte Heuer mehrere Thesen auf.
- Die Bevölkerung passe ihre Erwartungen der realen Entwicklung an, wobei rund 20 Prozent unempfindlich gegenüber Ungleichheit seien.
- Maßnahmen, die, wie steuerliche Entlastung unterer und mittlerer Einkommen, höhere Steuern für oberer Einkommen, höhere Löhne und ein höherer Mindestlohn, zu einer Reduzierung der Ungleichheit beitragen würden, sind selbst bei denjenigen nicht sonderlich populär, die die Ungleichheit zu groß finden.
- Die Effektivität von staatlicher Umverteilung bei der Bekämpfung von Ungleichheit wird nicht wahrgenommen. Bei denjenigen, die sich selbst der Unterschicht zurechnen, erreicht die Aussage, dass der Sozialstaat gleichheitsfördernd wirke, nur 40 Prozent Zustimmung.
- Populäre Maßnahmen seine nicht unbedingt effektiv, effektive Maßnahmen seien nicht unbedingt populär. Investitionen in Bildung werden in Umfragen im Vergleich zu allen anderen Maßnahmen periodisiert, tragen aber nur marginal zum Abbau von Ungleichheit bei.
Die anschließende Podiumsdiskussion zwischen Jan-Ocko Heuer, Manuela Rukavina von der Landesfrauenvertretung, der Bundestagsabgeordneten Dorothee Schlegel und Hagen Krämer zeigte auf, wie weit in der Ferne eine praktische Verringerung der Ungleichheit hierzulande noch liegt. Zwar gingen Heuer, Rukavina und Krämer noch weiter thematisch in die Tiefe, kritisierten Marktliberalisierung, den Glauben an Trickle-Down-Effekt, Lobbyismus der obersten Dezentile, die fehlende Wiedereinführung der Vermögenssteuer und fehlende Visionen in der Politik.
Doch insbesondre die Aussagen von Dorothee Schlegel, die die Verantwortung klar von der Politik in die Gesellschaft schob, die erst einmal Diskussionen über Einkommen und Vermögen enttabuisieren müsse und dass vor einem Konsens bei der Umverteilung keine gesetzlichen Regelungen zu erwarten seien, führte zu Raunen im Publikum. Auch mit dem Stichwort Bürokratieabbau traf sie nicht auf Zustimmung. Mit der steilen These, dass mehr Mut schwierig sei, verfehlte Schlegel schließlich absolut den Nerv der Zuhörenden und zeigte auf, wie weit sich die Realpolitik von der Realität entfernt hat.