von Hans Christ, Direktor des Württembergischen Kunstvereins
Wir trauern? Oder wo sollen wir zu erst anfangen zu trauern? Den Angehörigen der Attentate in Paris gehört ihre Trauer. Diese ist nicht teilbar, außer wir projizieren auf persönlich Betroffene ein System, das mit uns verbunden ist. Dies würde aber bedeuten, dass wir auch um die Arbeiterinnen in einer Textilfabrik in Bangladesch trauern, die für unseren Zugang zu günstigen Konsumgüter gestorben sind. Ist es wirklich so einfach das eine als Unfall und das andere als Terror zu titulieren? Grundlage dieser Toten ist dasselbe westliche „Freiheitsmotiv“. Wie verteilen wir unsere Trauer zwischen all diesen Toten staatlichen, terroristischen wie Gewinnmaximierung orientierten Terrors? Wie bewerten wir das Töten der einen oder der anderen? Gibt es überhaupt die Option sich auf die eine oder andere Seite zu schlagen ohne selbst Teil totalitärer, verallgemeinerbarer Wirklichkeitsansprüche zu werden? Was ist der IS für ein Phänomen? Was bedeutet die Behauptung des Äquivalentes zu einem Staat? Was ereignete sich in dieser Rhetorik des „Kampfs der Kulturen“, der seit 2001 westliche „Friedensstaaten“ zu „Kriegsstaaten“ transformiert? Wie unterscheiden sich Staaten, die seit 1945 das Recht zu töten zum eigenen Vorteil externalisiert haben, von der temporären Konstruktion eines Kalifats, das in seinem Inneren wie Äußeren den Terror des Tötens zur Existenzgrundlage nimmt? Ist unsere Rechtsstaatlichkeit etwas, was an unseren Grenzen endet und deren Schutz jedes Verbrechen jenseits dieser Grenzen legitimiert? Der Schock der Attentate in Paris sitzt ähnlich wie 2001 auch deshalb so tief, weil wir wieder die falschen Antworten geben, die auf beiden Seiten denjenigen zu spielen werden, die von einer destabilisierten Welt Profit schlagen werden. Ein Bundespräsident, der von einer neuen Qualität des Krieges und nicht von Terrorismus spricht, ist ein gefährlicher Brandstifter (Der Terror aus individualisierten Einzelzellen in urbanen Strukturen ist auch nichts Neues (Mumbai schon vergessen?).).
Unsere Freiheit konnte nicht durch eine militärische Intervention am Hindukusch verteidigt werden. Es folgte nur, was sich schon längst in der Expansion deutscher Waffenexporte fest geschrieben war: Die Festlegung auf eben eine Logik – der militärischen Option. Selten war es so überdeutlich, dass der völkerrechtlich illegale Irak-Krieg eine militärisch, hoch gerüstet terroristische Formation wie den IS erzeugt hat. Der Souverän „Westen“ ist der militärisch-industrielle Geburtshelfer dieser Bestie.
Es war der durch und durch konservative US–Präsident David Dwight Eisenhower, der uns 1961 vor der Logik des militärisch-industriellen Komplex warnte, der heutzutage totale Realität ist: „Wir in den Institutionen der Regierung müssen uns vor unbefugtem Einfluss — beabsichtigt oder unbeabsichtigt — durch den militärisch-industriellen Komplex schützen. Das Potenzial für die katastrophale Zunahme fehlgeleiteter Kräfte ist vorhanden und wird weiterhin bestehen. Wir dürfen es nie zulassen, dass die Macht dieser Kombination unsere Freiheiten oder unsere demokratischen Prozesse gefährdet. Wir sollten nichts als gegeben hinnehmen.“
In Paris wurde mit Kalaschnikows getötet, im Irak plünderte der IS zunächst die Waffendepots der „neuen“ Irakischen Armee, die vollgestopft waren mit US-amerikanischen und britischen Waffen, demnächst plündern die Taliban die Depots der zurückgelassenen Waffen der Bundeswehr, und Großbritannien und Deutschland machen nach wie vor Waffendeals mit der Diktatur in Katar. Das Land gilt als Geldtransferhafen zur Unterstützung des IS. Wir hier im Westen hoffen natürlich, dass die Erfahrung einer Fußballweltmeisterschaft in diesem Land, einer unserer größten Exportschlager demokratischer Freiheit den Kleinstaat vom Übel des Totalitarismus befreien wird. Zum Schutz des Ereignisses werden wir parallel jene Sicherheitstechnik an den Staat verkaufen, die in der Folge wohl kaum dazu dienen wird, die Verhältnisse vor Ort zu demokratisieren.
In einem Gespräch mit einem togolesischen Künstler muslimischen Glaubens stellten wir gemeinsam fest: „Die Welt geht schlecht.“ Die Frage ist: Was ist zu tun?