von Eberhard Frasch
„Man wird sich fragen müssen, ob die Tatsache der Unberührbarkeit der Grundrechte in sich selber nicht ein so hohes Gut ist, dass der Staat – auch in Zeiten des Notstands – vor ihnen soll zurücktreten müssen.“ – so Carlo Schmid (SPD) vor dem Parlamentarischen Rat im Jahr 1948. Und gut sechzig Jahre später in den Stuttgarter Nachrichten der baden-württembergische Innenminister Reinhold Gall (SPD), zum ersten Jahrestag des folgenschweren Polizeieinsatzes im Stuttgarter Schlossgarten: „Auslöser war nicht die Polizei, sondern die Demonstranten“. Aus dem heute verkündeten Urteil des Stuttgarter Verwaltungsgerichts zu dessen Rechtmäßigkeit lässt sich ableiten: Gall hat sich mit seiner damaligen Äußerung weit von seinem Genossen Carlo, einem der Väter des Grundgesetzes, entfernt und in eine Reihe mit seinem Vorgänger Rech (CDU) gestellt, der noch am Abend des Schwarzen Donnerstags von geworfenen Pflastersteinen als Auslösern gesprochen hatte – zu Unrecht. Oder mit Oberstaatsanwalt Häußler, der im Dezember 2011 in der Einstellungsverfügung gegen Stumpf, Mappus & Co u.a. geschrieben hatte: „Auf die versammlungsrechtliche Beurteilung kommt es … nicht an.“ Heute erklärt Gall: „Als Innenminister und oberster Dienstherr der Polizei Baden-Württemberg bedauere ich natürlich, dass durch unverhältnismäßiges Einschreiten der Polizei Menschen zu Schaden gekommen sind.“ Diese Worte klingen – auf dem Hintergrund seines jahrelangen Verhaltens als „Polizeiverteidigungsminister“- hohl und werfen – wenn schon „natürlich“ – die Frage auf: Warum nicht schon 2011 – mit entsprechenden Konsequenzen?
Das Verwaltungsgericht Stuttgart hat nun mit seinem Urteil dem Grundgesetz in dieser Stadt wieder volle Geltung verschafft, indem es einen eklatanten Verfassungsbruch der Stuttgarter Sicherheitorgane festgestellt und damit den fünf Jahre andauernden Skandal eines partiellen Grundrechtsvakuums beendet hat. Es definierte die Schlossgarten-Demonstration vom 30.09.2010 als „eine verfassungsrechtlich geschützte Versammlung“ und ordnete diesem Bezug auf das Grundrecht der Versammlungsfreiheit nach Artikel 8 des Grundgesetzes alle anderen Aspekte unter.
Lassen wir das Gericht selbst sprechen (Pressemitteilung vom 18.11.2015): „Die 5. Kammer des Verwaltungsgerichts Stuttgart hat heute sechs Urteile verkündet, in denen sie feststellt, dass den Klägern gegenüber getroffene polizeiliche Maßnahmen im Stuttgarter Schlossgarten am 30.09.2010 rechtswidrig waren. … Den stattgebenden Entscheidungen liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde: Die gegenüber den Klägern durch den Polizeivollzugsdienst ausgesprochenen Aufforderungen, bestimmte Bereiche des Schlossgartens zu verlassen (so genannte Platzverweise), sind rechtswidrig. Dem Erlass des auf das Polizeigesetz des Landes Baden-Württemberg gestützten Platzverweises steht die so genannte Sperrwirkung des Versammlungsrechts entgegen. Danach sind polizeiliche Maßnahmen, die die Teilnahme an einer Versammlung beenden, rechtswidrig, solange die Versammlung nicht auf der Grundlage des Versammlungsgesetzes aufgelöst worden ist. Die Menschenansammlung im Stuttgarter Schlossgarten am 30.09.2010 war eine verfassungsrechtlich geschützte Versammlung. Denn bei der Verhinderung der Baumfällarbeiten und der Errichtung des Grundwassermanagements handelte es sich lediglich um ein Nahziel zur Erreichung des Fernziels der Verhinderung des Umbaus des Bahnknotens Stuttgart. Der Schutz des Versammlungsgrundrechts entfiel auch nicht wegen Unfriedlichkeit. Vorfälle, die zur Annahme der Unfriedlichkeit führen könnten, wie der Einsatz von Pyrotechnik oder das Besprühen von Polizeibeamten mit Pfefferspray, blieben vereinzelt. Die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Vollstreckungsmaßnahmen, insbesondere des Einsatzes von Wasserwerfern, ergibt sich bereits aus der Feststellung der Rechtswidrigkeit des den Klägern gegenüber angeordneten Platzverweises. Erhebliche Zweifel bestehen im Übrigen an der Verhältnismäßigkeit des Einsatzes des Wasserwerfers gegenüber den Klägern. Insbesondere ist zweifelhaft, ob Wasserstöße als die intensivste Form des Einsatzes eines Wasserwerfers angemessen waren.“
An das Land ergeht nun der Appell: Stellen Sie keinen Antrag auf Zulassung der Berufung und kommen Sie den Opfern endlich mit einer Entschuldigung sowie Angeboten zu Entschädigungen und Schmerzensgeldzahlungen entgegen.
Dank an Eberhard Frasch für diesen klaren Kommentar.
Ich bin auch erleichtert, dass unsre Justiz sich wieder
am GG orientiert.
Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer ein Richter keine rechtsstaatliche Demokratie. Als sozialdemokratischer Stammwähler wollte ich Schmiedels Blasphemie oder Schmids Heuschreckenfütterung ausgerechnet mit Eisenbahnerwohnungen einmalig abstrafen. Stickelbergers Tatenlosigkeit bei Häusslers Anwandlungen und Galls Weghören bei den dutzenfachen Falschaussagen von Beamten vor Gericht und UAs meist inklusiv falscher Verdächtigung sind widerwärtig in der Art, vorallem Verrat an sozialdemokratischer Geschichte. Über die Falschaussagen hätte sich das Innenministerium exakten Überblick verschaffen müssen, um Absprachen Gruppenbildung oder dienstliche Abhängigkeiten untersuchen müssen. Von Justizseite aus gab es Verschleppungen und Urteile bis hin zur Verurteilung von weissem Licht. Die ultimative Symbolhaftigkeit davon wird sich denen nie erschließen.
Ich sehe das so, dass 5 Jahre Justiz und Strafverfolgung unter „sozialdemokratischen“ Ministern als Knüppel gegen die Wahrheit eingesetzt wurde. Hat mich wirklich an Vaclav Havels Kommentare über seine alte regierung erinnert. Die beiden Minister wollten keinen politischen Druck aufkommen lassen durch die S21-Gegner und ließen fast keine denkbare Möglichkeit aus. Was Gall und Stickelberger jetzt. mit der Flurbereinigung und zaghafte Einsetztung von Recht und Gesetz dem Sinne nach, machen ist ausschließlich ihre EIGENE Haut retten. Es könnten ja charakterfeste rechtstaatliche Minister nachfolgen die mal durch Akten blättern. Die beiden wären nicht mal bei so geerdeten CDU-Ministern sicher.