Sichere Herkunft?

Eindrücke von Besuchen bei zwangsrückgekehrten Romafamilien auf dem Balkan
Von Michaela Saliari

Im Jahr 1991, als die Jugoslawienkriege wüteten, suchten viele Menschen Schutz in Mitteleuropa, darunter auch viele Roma. Schon damals lernte ich mehrere Familien kennen, die ich auf Anhieb mochte. Es waren freundliche Menschen, die mich jederzeit herzlich-warm willkommen hießen.
Durch all die vielen Gespräche mit ihnen und anderen hier lebenden Roma, durch Erlebnisse bei Besuchsreisen nach Serbien und Mazedonien sowie durch die theoretische Auseinandersetzung mit den Themen „Roma“ und „Antiziganismus“ formte sich in mir ein Bild. Das habe ich auf einer Reise auf den Balkan Anfang Oktober aufgefrischt.
Wir wollten uns bekannte Familien besuchen und deren Lebenssituation nach der erzwungenen Rückkehr dokumentieren und herausfinden, ob und in welcher Form man sie längerfristig unterstützen könnte und ihnen mit Geld-, Medikamenten- und Kleiderspenden die aktuelle Lage erleichtern.
Ein weiterer Plan war, die Situation der Transitflüchtlinge an den EU-Außengrenzen in den Blick zu nehmen. Wir sammelten warme und wetterfeste Kleidung, Schuhe und Decken, um sie den Transitflüchtlingen zu bringen.

Mit zwei Kleinbussen, voll gepackt mit Kartons und Säcken voller Hilfsgüter und Gastgeschenke, brachen wir am Morgen des 3. Oktober auf. Geplant waren Besuche bei Familien in der Vojvodina (Serbien) sowie in Skopje, Strumica, Debar und Tetovo in Mazedonien. Hier soll die Lebenssituation der besuchten Roma-Familien geschildert werden. Dann mag sich jeder selbst ein Urteil darüber bilden, ob Serbien und Mazedonien tatsächlich sichere Herkunftsländer sind.
Erst im Oktober hat das Verwaltungsgericht Oldenburg einer Romni aus Mazedonien zuerkannt, in ihrer Heimat politisch verfolgt zu sein. Sie hatte sich für die Rechte der Roma eingesetzt und staatliche Willkür dokumentiert. Über Jahre sei sie deshalb von der Polizei malträtiert worden, unter anderem wurde die Frau so heftig verprügelt, dass sie ihr ungeborenes Kind verlor. Sie sei kein Einzelfall, so ihr Anwalt laut Taz.

Dusche und Toilette in einem Haus in Strumica. Foto: Saliari

Brankos Haus wurde vom Nachbarn völlig ruiniert und keiner hilft

Von staatlicher Willkür wissen viele Roma ein Lied zu singen. Branko, ein noch in Nürtingen lebender Flüchtling, bat mich, Fotos von seinem kleinen Zweiraum-Häuschen in einem Ort nahe Sombor in Nordserbien zu machen. Sein serbischer Nachbar begann vor etwa zwei Jahren unmittelbar neben Brankos Haus eine Güllegrube zu bauen. Er hielt den Mindestabstand nicht ein, mit der Folge, dass seither die Feuchtigkeit von unten ins Haus drückt. Innen sind die Wände feucht und es riecht sehr unangenehm. Ein menschenwürdiges Wohnen darin erscheint kaum vorstellbar.
Das Haus in diesem Zustand zu verkaufen wäre ein fatales Minusgeschäft. Branko stünde mit Frau und Tochter auf der Straße, ohne sich von dem Verkaufserlös etwas Neues kaufen zu können. Ohne verlässliche Einkünfte eine Wohnung zu mieten – sofern Roma eine erhalten – wäre langfristig zu teuer. Eine ausweglose Situation also.
Branko sprach im Rathaus und bei der Polizei vor, erhielt jedoch keinerlei Unterstützung: „Dafür sind wir nicht zuständig. Geh nach Hause, Zigeuner!“, waren die Worte derer, von denen Branko Hilfe erbat.
Die Erfahrung, weder von der Polizei noch von anderen Behörden bei der Wahrung normaler Bürgerrechte unterstützt zu werden, haben alle besuchten Familien gemacht. Evica, Brankos Schwester, ist Mitte 30, verheiratet, hat zwei Kinder und ist arbeitslos. Sie wurde mit ihrer Familie im Mai dieses Jahres aus Baden-Württemberg abgeschoben. Wir erfahren, dass sie sich schon unzählige Male erfolglos beworben hat. „Bis zu dem Moment, in dem ich beim Personalzuständigen ankomme, ist alles ganz normal. Sieht er mich, augenscheinlich eine Romni, ist es immer dasselbe. Mir wird entweder gleich abgesagt oder ich werde damit vertröstet, in Kürze benachrichtigt zu werden. Aber nie in all den Jahren ist auch nur ein Brief oder Anruf bei mir angekommen.“
Dabei kann Evica mit guten Noten aufwarten, wie ihr Abschlusszeugnis der achten Klasse belegt. Sie kann eine Qualifikation als Schneiderin vorweisen, aber selbst das habe ihr nie geholfen. Ob sie sich nicht selbständig machen könne? „Eine Nähmaschine? – Nein, so etwas kann ich mir nicht leisten.“

Lebensgeschichten dieser Art kenne ich aus den vielen Berichten sämtlicher mir bekannter Roma und ich höre sie auf der ganzen Reise in den verschiedensten Variationen. Nicht nur sie, auch Evicas Mann und ihr Bruder Branko suchen vergeblich eine Festanstellung, ebenso Baki und Günejdin und ihre Frauen in Skopje, Selims Familie in Strumica oder Sini und Bukra in Debar.
Günejdin wurde mit Frau und Sohn im September aus einer Kleinstadt nahe Stuttgart abgeschoben. In Skopje angekommen, bewarb er sich sofort bei einem großen Bauunternehmen. Telefonisch wurde er zu seinen Qualifikationen befragt und prompt zum Kennenlernen eingeladen. „Kaum sah mich der Chef, bemerkte ich sofort eine Veränderung in seinem Blick“, erinnert sich Günejdin. „Er war plötzlich kurz angebunden und sagte, die Stelle sei schon vergeben. Von einem Freund erfuhr ich dann, dass die Stelle zu diesem Zeitpunkt noch frei war und sie schließlich ein Kroate bekam. Der hatte aber keinen Kranführerschein, wie ich“.

„Zu Titos Zeit war alles ganz anders“, erzählt Sini aus Debar. „Da hatte ich Arbeit in einem Hotel. Sieben Tage die Woche, jede Nacht. Das war nicht leicht, aber wir hatten alles was wir brauchten zum Leben. Aber nach dem Zusammenbruch Jugoslawiens waren wir die Ersten, denen gekündigt wurde. Seitdem ging es für die Roma abwärts.“ Bankenkrise, Privatisierung und andere Entwicklungen förderten den Sog nach unten.
Es gibt wohl Gewinner in den Balkanländern. Die Stadtzentren von Novi Sad, Skopje und selbst Strumica und Debar wirken modern und aufgeräumt. Es gibt Prachtvillen, die großen Reichtum erahnen lassen. Kommt man in die ghettoartigen Stadtteile, in denen vor allem die Roma leben, zeigt sich ein schockierend anderes Bild.
Selim aus Strumica erzählt von seiner derzeitigen Arbeit: für nur kurze Zeit habe er Anstellung in einer Feldfrüchte weiterverarbeitenden Fabrik gefunden. Er zeigt uns seine Daumennägel, beziehungsweise was davon übrig geblieben ist. Die Schärfe der Peperoni, deren Kerne er stundenlang herausdrückt, ätzten ihm die Nägel weg. „Wir Roma bekommen immer die Arbeit, die die anderen nicht machen wollen. Wir arbeiten zehn bis zwölf Stunden am Tag und tragen dann gerade mal 8,50 Euro oder maximal zehn Euro nach Hause.“
Die Tagelöhnerarbeiten gibt es meist nur in der Zeit vom Frühjahr bis zum Herbst und dann auch nicht täglich. Im Winter gibt es so gut wie keine Arbeit. Keine der von uns besuchten Familien ist in der Lage, die monatlichen Stromkosten von etwa 45 Euro zu bezahlen, auch deren Nachbarn und Familienangehörigen nicht. Zum Teil laufen die Kosten seit Jahren auf. Die Betroffenen müssen entweder mit Gefängnisstrafen oder mit Beschlagnahmungen ihres spärlichen Besitzes rechnen. Man könnte dies als künstliche Kriminalisierung bezeichnen.

Ohne „Bakshish“ kein Arzt für das kranke Kind

Um über den Winter zu kommen, werden pro Familie bis zu über 1000 Euro benötigt für Brennholz, Lebensmittel oder Medikamente. Diese Summe müsste in der Arbeitssaison zurückgelegt werden können, was den meisten trotz aller Anstrengungen nicht möglich ist.
Hinzu kommt die Korruption. Sie gehört in all diesen Ländern zur Tagesordnung, man kommt beim besten Willen nicht drum herum. Selbst wir dürfen mit dieser Praxis mehrfach Bekanntschaft machen. Der Grenzbeamte flüsterte unserem Dolmetscher zu: „Du brauchst das den Deutschen aber nicht zu sagen“.
Roma, so erfahre ich, müssen – sofern sie dazu in der Lage sind – auch häufig „Bakshish“ zahlen, zum Beispiel um eine dringende ärztliche Behandlung rechtzeitig zu bekommen. Hat jemand kein Geld, kann es auch mal zu spät sein. Davor sind nicht einmal Kinder gefeit. Entsprechend hoch ist die Kindersterblichkeit unter den Roma des Westbalkans.

Es gibt sie auch, die qualifizierten Roma ohne Geldsorgen. Aber in der Regel ist dies ein steiniger, ausgesprochen beschwerlicher Weg dorthin, der ein riesiges Durchhaltevermögen erfordert. Die Aachener Nachrichten berichteten kürzlich von einem Ehepaar aus Kumanovo (Mazedonien). Beide haben einen Gymnasialabschluss und eine Festanstellung, sie als medizinisch-technische Laborantin, er als Berufssoldat in einer technischen Spezialeinheit der mazedonischen Armee. Beide berichten von ihren leidvollen Erfahrungen mit Ausgrenzung und Diskriminierung auf dem Weg zur abgesicherten Existenz. Als sie keine Kraft mehr hatten, sich gegen die dauernden rassistischen Diskriminierungen zur Wehr zu setzen und wussten, dass ihr autistisches Kind in Mazedonien keine Chance auf wirkliche Unterstützung hatte, suchten auch sie ihr Glück in Deutschland.

Diese Roma-Familie trafen wir in Debar. Ihr Haus brannte unter ungeklärten Umständen nieder, nun fühlt sich niemand für sie zuständig. In diesem Zelt leben vier Menschen, Eltern mit ihren Kindern im Alter von 14 und zwei Jahren. Foto: Saliari

Ständig Diskriminierung zu erleiden kostet viel Kraft

Auch Evica nannte als Grund für die Flucht nach Deutschland, neben den belastenden Diskriminierungserfahrungen im Alltag, die Sorge um die Zukunft ihrer Kinder. Beide erfuhren in der Schule tägliche Ausgrenzung und Gewalt durch Mitschüler und auch von Lehrern. Der Rektors habe nur verharmlost und abgewunken.
Brankos Tochter Aleksandra, die derzeit eine Nürtinger Schule besucht, antwortete mir kürzlich auf die Frage, warum sie trotz Heimweh hier gerne in die Schule geht: „Hier werde ich von meinen Mitschülern nicht ständig geschlagen und gehänselt. Ich kann mich viel besser konzentrieren. Zu Hause hatte ich Angst vor der Schule.“ Leider hat das neue Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz zur Folge, dass auch Brankos Familie über kurz oder lang zurück nach Serbien muss. Da hilft auch Brankos Bemühen um eine Arbeitserlaubnis nichts. Im Moment ist er für 1,05 Euro gemeinnützig tätig.
Sini, der mit seiner Frau Bukra im Oktober 2014 aus Nürtingen „freiwillig“ ausreisen musste, beantragte nach der Rückkehr Sozialhilfe. Er bekam bald darauf ein Schreiben mit dem Hinweis auf ein neues Gesetz, nach dem die Sozialhilfe (8,80 Euro pro Person im Monat) aufgrund des Auslandsaufenthalts für ein Jahr gestrichen wird. Sini ist krankheitsbedingt arbeitsunfähig, seine Frau Bukra fand bisher keine Arbeit. Albanischstämmige werden in dieser zu Albanien grenznahen Region Mazedoniens immer bevorzugt genommen. Die vergangenen zwölf Monate konnte die Familie nur durch die regelmäßigen Geldspenden aus Nürtingen bewältigen. Wie es weitergeht, falls die Unterstützung ausbliebe? Das wissen sie auch nicht.
Luan, der ältere Sohn der Osmanis, war im Spätsommer dieses Jahres mehrere Wochen zu Besuch in Deutschland. Er wollte ohnehin zurück nach Debar und fuhr deshalb bei uns mit. Er unterstützte uns während der gesamten Reise mit seinen sehr guten deutschen Sprachkenntnissen. Auch er ist aussichtslos arbeitssuchend und kann den Eltern nicht unter die Arme greifen. Er versuchte, bisher erfolglos, einen Betrieb zu finden, der ihm zu einem Arbeitsvisum verhelfen könnte. Er ist ein verlässlicher, zupackender, hilfsbereiter junger Mann, der die Hauptschule in Neckarhausen bis zur siebten Klasse absolvierte. Dann mussten er, seine Eltern und Geschwister im Spätsommer 2001 zwangsausreisen.
Bei seinem Onkel, der als Maler selbständig tätig war, half er immer wieder mit. Vielleicht wird sein Traum wahr und es findet sich eine Arbeitsstelle für ihn zum Beispiel im Malerhandwerk. Wohnraum in Nürtingen könnte gestellt werden.
Luans jüngerer Bruder Denis, der im Jahr 2013 ein Asylgesuch in Deutschland stellte und wohl aufgrund der Folgen einer lebensgefährlichen Verletzung noch nicht zur Ausreise aufgefordert wurde, ist inzwischen im zweiten Lehrjahr zum Raumausstatter. Er hofft, mindestens für die Zeit der Ausbildung eine Aufenthaltserlaubnis für Deutschland zu bekommen.

Schon Kleinigkeiten können die Situation der Menschen verbessern

Weitere Wünsche für die besuchten „Nürtinger“ Familien? In erster Linie Geldspenden. Damit sollen eine Nähmaschine für Evica und Sanierungsmaterial für das Häuschen ihres Bruders Branko gekauft werden. Solange Bukra keine Arbeit findet und die Söhne ihren Eltern nicht helfen können, benötigen sie weitere finanzielle Unterstützung. Zukunftsideen gibt es allerdings: die in feiner Handarbeit geübte Bukra würde gerne das Nähen mit der Nähmaschine erlernen und dazu drei Monate nach Nürtingen kommen. So könnte sie ihr Glück mit einer Reparaturschneiderei versuchen.

Wer uns unterstützen möchte, kann gerne Kontakt mit mir aufnehmen. Dies ist möglich über www.nfant.de/ehrenamt/ehrenamt-karibuni/.

  • In diesem Bericht wird nur ein kleiner Ausschnitt unserer Reiseeindrücke beschrieben. Wer Interesse daran hat, noch mehr zu erfahren, ist eingeladen, unseren Blog zu besuchen, der weiterhin, je nach unseren zeitlichen Möglichkeiten, um neue Einträge ergänzt wird. https://balkanreise.wordpress.com

(Der Artikel erschien zuerst am 14.11.2015 in der Nürtinger Zeitung)