Wettern
Das große Willkommen

Wie schön: Die ganze Welt klopft uns auf die Schultern, weil wir so menschlich sind – und die anderen nicht. Endlich mal keine Polizeikontrollen mehr an den Bahnhöfen für die schwarzen Brüder (aber der Anfangsverdacht bleibt natürlich!) –, sondern ein herzliches Grüß Gott in München. Und weiter südwärts dann die Grenzen wieder dicht.

Das große Willkommen rührt ans Herz. Aber was kommt danach? Brandanschläge oder Hassgesänge? Der Schulterschluss der Ossis aus Polen, Tschechien, der Slowakei und Un-gern gegen den Strom? Wahltriumphe der Nationalsozialisten? Sprachreisen ins Niemandsland macht nur der Mittelstand, den Willkommengeheißenen wünscht man die Heimat zurück, lieber heute und morgen. Jetzt mal ganz unter uns Tippelbrüdern, wie meine Omi Glimbzsch aus Zittau seinerzeit die Völkerwanderer nannte, die aus Polen und der Armut kamen. Es genügt natürlich nicht, an den Bahnhöfen alte Klamotten abzulagern und Stullen zu schmieren. Das wissen wir. Aber sonst schmiert ja keiner, das mit dem ehrlichen Grüß Gott und dem warmen Tee und dem Teller Reis und dem Stullenschmieren kriegt ja nur die Zivilgesellschaft hin. Freilich, wir müssen schon mehr bieten, wenn wir wollen, dass es vorwärts geht, wo’s doch kein Zurück gibt. Deshalb muss es nach unseren ersten Liebesbeweisen heißen:

Vorwärts und nicht vergessen,
worin unsere Stärke besteht!
Beim Hungern und beim Essen,
vorwärts und nie vergessen:
die Solidarität! (Bertolt Brecht)

Mehr bieten heißt: Ein offenes, ein deutlicheres Wort an Europa, von der Etsch bis an den Belt. Ein ehrliches Wort an alle, die erfreulicherweise zu Hause in der warmen Stube bleiben können – und keine regierungsamtlichen Halbwahrheiten mehr in den Reden ans Volk, das man nicht erschrecken will. Seht, wie der Zug von Millionen endlos aus Nächtigem quillt: Das wäre die ganze Wahrheit. Sie kommen, weil wir ihnen den Boden unter den Füßen weggezogen haben. Sie sind willkommen, weil es andernorts null Perspektive für sie gibt. Andernorts warten der IS mit dem Fallbeil, Hunger, die Bomben der Koalition, Seuchen. Wenn wir noch länger warten, werden die Massenlager zu Todeslagern. Jetzt heißt es: hingestanden, Zivilcourage, Solidarität und Barmherzigkeit. Barmherzigkeit übrigens ist der Begriff von gestern für die menschlichen Tugenden von heute. Sichere Herkunftsländer erfinden und Schiffe versenken ist leichter.

Peter Grohmann schreibt sein Wettern der Woche für die Wochenzeitung Kontext – für lau.

Über Peter Grohmann

Peter Grohmann, Jahrgang 1937, Breslauer Lerge, über Dresden auf d' Alb, dann runter nach Stuttgart: Schriftsetzer und Kabarettist, Autor und AnStifter gegen Obrigkeitsstaat und Dummdünkel. Mitgründer: Vom Club Voltaire übers undogmatische Sozialistische Zentrum, vom Theaterhaus zu den AnStiftern. Motto: Unruhe ist die erste Bürgerinnenpflicht. Was ärgert Grohmann? Alle, die den Arsch nicht hochkriegen, aber dauernd meckern. Und an was erfreut er sich? An Lebensfreude und Toleranz