Es erzählt eine Legende von fünf blinden Männern, die einen toten Elefanten finden. Sie wissen sofort: Es ist etwas Großartiges! Und so beschließen sie, das Fundstück von allen Seiten zu untersuchen. Der eine entdeckt inspiziert den Stoßzahn, der andere den gewaltigen Rücken, der dritte untersucht den Schwanz, der vierte den Rüssel und der fünfte Blinde die Zehen der Vorderbeine. Als sie ihre Erfahrungen austauschen, stellen sie fest, dass sie unterschiedlicher nicht sein könnten.
Guantanamo oder Gaza, Ostukraine oder Omertà – wir wissen nicht mehr, wo vorn und hinten ist, vor allem, wenn man den Elefanten nachts umdreht oder wiederbelegt. Während im Falle Gaza bewusst wie unbewusst antisemitische Klischees mobilisiert werden, überwiegt bei der Ostukraine der Blick auf den Putinschen Stoßzahn. Russische Nachrichten – No wosti, Genosse? – werden im Gedenken an den Antikommunismus so gut wie nirgends zitiert, und die Akteure von Revolution und Konterevolution mahnen die Betroffenen mit einem Spruch des Kinderschänders Berlusconi: „Wer taub, blind und stumm ist, lebt hundert Jahre in Frieden.“
Die mit den Waffen Krieg und Frieden spielen, proklamieren ungeniert Bibel oder Tora, Koran oder Schari’a und jagen den Gläubigen nicht nur einen Heidenschrecken ein, sondern lassen den frommen Worten gemeine Taten folgen: Raketen aus dem Wohnzimmer, Granaten ins Kinderzimmer. Das neue Volkslexikon Wikipedia meint, dass nach überwiegender rabbinischer und historisch-kritischer Auffassung bei der Vergeltung ein angemessenen Schadensersatz verlangt wurde, um die im alten Orient verbreitete Blutrache einzudämmen und durch die Verhältnismäßigkeit von Vergehen und Strafe abzulösen. OK, das ist lange her und war früher so.
Unrecht? „Das sieht ja ein Blinder mit dem Krückstock“, tät‘ heute meine Omi Glimbzsch aus Zittau sagen. Aber ihr Blinder würde spätestens vor dem toten Elefanten kapitulieren, weil es zu dunkel ist geworden ist. Dafür sind die fünf Blinden dieser Tage sind laut: Auge für Auge, rufen sie, Zahn für Zahn!
Peter Grohmann schreibt und spricht das Wettern der Woche für die Wochenzeitung Kontext – für lau.