Das hab’ ich mir doch gleich gedacht, als ich mal wieder dieses hochgekochte Donnerwetter sah: Antisemit schlägt Semiten, Pro-Semit schlägt zurück. Da ist Krieg im Lande, da verhungern Kinder, da ersaufen Menschen im Mittelmeer, da brennt die Welt – wir aber albern im Oberstübchen munter vor uns hin, gefräßig auf alles, was nach Antisemitismus klingt. Henryk, mein guter Broder aus alten Zeiten, aufsässig und provokativ gegen Dummheit und Dünkel im Land, hat eine linke Gerade gelandet gegen Augsteins Jakob: Voll aufs Auge. Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist der Klügste im deutschen Land? Der Jakob sei einer, der „propagandistisch die nächste Endlösung der Judenfrage“ vorbereite, wetterte Bruder Broder gegen Bruder Augstein und gab noch ein Freibier drauf, indem er Augstein mit Julius Streicher verglich.
Mit derlei Spielchen und Sprüchlein kommt man rasch ins Gerede – das ist gewollt. Schlagzeilen machen, hinter denen dann die gesamte Medienwelt herhechelt. Da vergisst man die täglichen Sauereien des Systems, da übersieht man gern die Menschen, die im Stacheldraht hängen, weil wir sie nicht reinlassen, das bleibt kein Blick auf die todkranken Flüchtlingskinder in Syrien. Semitismus ist gefragt – und Antisemitismus. Wie trefflich läßt sich da lästern. Broder entschuldigte sich am letzten Sabbat: Augstein sei weder ein kleiner noch ein großer Streicher und nur für das verantwortlich, er heute mache, meinte Henryk – und nicht für das, was er in einem anderen Leben möglicherweise gemacht oder nicht gemacht hätte. Ach.
Peter Grohmann (sonntag aktuell, 13.1.2013)