DIE ANSTIFTER
Das Massaker von Sant‘ Anna di Stazzema und seine juristische Aufarbeitung
– Informationsveranstaltung am 2.12.2012 in Stuttgart –
Am 2.12.2012 fand in den Räumen des Württembergischen Kunstvereins eine Informationsveranstaltung zum Thema „Das Massaker von Sant‘ Anna di Stazzema und seine juristische Aufarbeitung“ statt. Aktueller Anlass sind die Einstellung des Ermittlungsverfahrens gegen die mutmaßlichen Täter durch die Stuttgarter Staatsanwaltschaft Anfang Oktober und die öffentliche Entrüstung dagegen. Die Veranstaltung steht im Zusammenhang mit einer Fahrt nach Sant‘ Anna, mit der die Teilnehmenden am 8.12. den Überlebenden, den Angehörigen der Opfer und den Bewohnern der Region ihre Solidarität zeigen wollen. Referiert haben vor etwa 60 Zuhörenden Paolo Pezzino, Professor für Zeitgeschichte an der Universität Pisa, und Gabriele Heinecke, Rechtsanwältin aus Hamburg, die einen der Überlebenden vertritt und gegen die Einstellungsverfügung Beschwerde eingelegt hat.
Prof. Pezzino gab zunächst einen Überblick über die Ereignisse des letzten Kriegsjahres. Er ging dabei besonders auf den „Krieg gegen die Zivilisten“ in Mittelitalien ein, der sich nach der Befreiung Roms am 4.6.1944 mehr und mehr verschärft hatte. Die von General Kesselring angeordneten sogenannten Operationen gegen die „Banditen“ – gemeint waren die Partisanen – waren in Wirklichkeit drakonische Maßnahmen der totalen Zerstörung der Ortschaften und der blutigen Massaker, in Sant’ Anna di Stazzema am 12.8.1944, der größte Teil der Opfer Kinder, Frauen und Ältere. Verantwortlich – so Pezzino weiter – waren meist Einheiten, deren Mitglieder überzeugte Nationalsozialisten waren, wie etwa die 16. Panzergrenadierdivision „Reichsführer SS“ der Waffen-SS, die in Sant’ Anna wütete.
Der Professor stellte heraus, dass auch die italienische Justiz der Nachkriegszeit sehr zögerlich an die Strafverfolgung der Kriegsverbrecher herangegangen sei. Es habe die Sichtweise vorgeherrscht, Opfer unter der Zivilbevölkerung seien „Kolateralschäden“ gewesen, die agierenden Soldaten hätten Befehle befolgt, ohne zu diskutieren, ob sie rechtswidrig oder kriminell sein könnten. Eine Wende habe der Priebke-Prozess Mitte der Neunziger bedeutet. Für die darauf folgende Phase einer effektiven Strafverfolgung sei die zentrale Figur Marco di Paoli gewesen, der Procuratore Militare di La Spezia: Ihm gelang es nachzuweisen, dass die Verantwortung der Täter größer war als bisher angenommen, besonders die der Befehlshaber aller Kommandoebenen, vor allem weil Massaker der Art wie in Sant’ Anna nicht ohne vorausschauende und planende Organisation möglich waren. Die politischen Beziehungen zwischen Deutschland und Italien sieht Pezzino im Blick auf die Aufarbeitung der Vergangenheit nach einer Phase der Entspannung belastet: Die Bundesrepublik weigert sich, Entschädigungsansprüche der zivilen Opfer der Massaker anzuerkennen und die Urteile italienischer Gerichte an den dort Verurteilten in Deutschland zu vollstrecken.
Und nun die Einstellung des Ermittlungsverfahrens gegen die noch lebendenmutmaßlichen Täter durch die Stuttgarter Staatsanwaltschaft – sie ist in ganz Italien auf heftige Kritik gestoßen, auch auf höchster politischer Ebene bei Staatspräsident Napolitano. Frau Heinecke, die Rechtsvertreterin eines Überlebenden des Massakers von Sant’ Anna, schloss sich der Bewertung Marco di Paolis, des italienischen Militärstaatsanwalts, durch Prof. Pezzino an und betonte: Man könne sich nur wünschen, dass die Stuttgarter Staatsanwaltschaft mit derselben Energie und mit denselben Maßstäben an den Fall herangegangen wäre. Ihre scharfe Kritik richtete sich besonders gegen Oberstaatsanwalt Häußler, der eine Einstellungsverfügung voller Widersprüche vorgelegt habe und dessen Begründungen nicht nachvollziehbar seien. Insbesondere die Behauptung, es habe sich nicht um nicht um eine „von vornherein geplante“, sondern eine eher spontane, zufällige Aktion“ gehandelt, könne nicht zutreffen, einmal wegen der von Zeugen für Sant’ Anna beschriebenen Vorgehensweise, zum anderen deshalb, weil die entsprechenden Einheiten schon mehrfach in ähnlicher Weise – auch im Osten – vorgegangen waren. Sie müssen – so Frau Heinecke – vorab von der geplanten Vernichtungsaktion gewusst haben.
Unverständlich ist die Verfahrenseinstellung auch deshalb, weil in zumindest einem Fall (Gerhard Sommer) aufgrund von Zeugenaussagen ein dringender Tatverdacht besteht. Frau Heinecke erhob gegen Oberstaatsanwalt Häußler weitere schwere Vorwürfe: Es habe eine offensichtliche Verunsicherung von Zeugen gegeben. Einige Verdächtige seien zunächst als Zeugen vernommen, dann zu Beschuldigten erklärt worden, was ihre Aussagen unverwertbar gemacht habe. Und die Nebenklage sei jahrelang in ihren Rechten behindert, ja schikaniert worden.
Insgesamt wirft Frau Heinecke Herrn Häußler vor, sich Entscheidungen angemaßt zu haben, die nicht er, sondern ein Gericht zu vorzunehmen hätten, so über die Fragen der „niedrigen Beweggründe“ oder der „subjektiven Grausamkeit“. Im Namen ihres Mandanten lege sie nun Beschwerde ein und werde – wenn diese nicht greife – ein Klageerzwingungsverfahren beantragen, um zu erreichen, dass die mutmaßlichen Täter sich vor Gericht rechtfertigen müssten und dass ein Gericht darüber entscheide, ob jeweils die Tatmerkmale von Mord und die Täterschaft gegeben seien. Frau Heinecke ließ offen, ob gegen Herrn Häußler der Vorwurf der Strafvereitelung zu erheben sei. Wegen der wohl politischen Motive (Warten auf die „biologische Lösung“ u.a.) könne sie sich am ehesten ein Forum wie die Russell-Tribunale vorstellen, auf dem der Umgang der Bundesrepublik mit der NS-Vergangenheit – auch bezogen auf Personen wie Häußler – auf den Prüfstand komme.
Eigenbericht, Verfasser Eberhard Frasch, 3.12.2012