Dieser Artikel von Jürgen Weber ist soeben in der „Antifa – Magazin der VVN-BdA für antifaschistische Politik und Kultur“ erschienen:
Entsetzen und Enttäuschung in Sant‘Anna di Stazzema
Noch herrscht Ratlosigkeit und Ohnmacht bei den überlebenden Opfern und italienischen Ermittlern über die Einstellung der Verfahren in Deutschland gegen die Mörder des Massakers von Sant‘Anna di Stazzema. Nur kurz zeigt uns Enrico Pieri sein vom deutschen Botschafter in Rom überreichtes Bundesverdienstkreuz, dann legt er es zur Seite und es fällt ihm sichtlich schwer über die schallende Ohrfeige aus Stuttgart zu sprechen.
Zehn deutsche Kriegsverbrecher wurden 2005 vom Militärgericht in La Spezia in Abwesenheit zu lebenslanger Haft verurteilt. Allesamt Befehlshaber der 16. SS-Freiwilligen-Panzergrenadier-Division der Waffen-SS, welche für eines der abscheulichsten Massaker der deutschen Besatzung in Italien verantwortlich sind. Die Dorfbevölkerung von Sant‘Anna di Stazzema, ganz im Nordwesten der Toskana an den Ausläufern der apuanischen Alpen zwischen Carrara und Lucca gelegen, wurden in den Morgenstunden des 12. August 1944 systematisch ermordet, die Häuser niedergebrannt und das Vieh umgebracht. Nichts außer verbrannter Erde sollten Partisaninnen und Partisanen hier vorfinden. Deutschland lieferte die in Italien durch alle Instanzen verurteilten Mörder nicht aus, sondern wollte ihnen vor einem deutschen Gericht selbst den Prozess machen. Dazu wird es nun wohl nicht mehr kommen. Die Staatsanwaltschaft Stuttgart hat unter Oberstaatsanwalt Bernhard Häussler am 1. Oktober 2012 diese Akten nach über 10 Jahren Ermittlungszeit wieder geschlossen und damit für tiefe Enttäuschung, Entsetzen und Unverständnis in S. Anna und ganz Italien gesorgt.
Maßgeblich für die Einstellung der Verfahren gegen die noch lebenden Angeklagten der Waffen-SS des Massakers von Sant‘Anna die Stazzema, so die Stuttgarter Staatsanwaltschaft, sei, dass es sich für eine Anklageerhebung nicht mit der „erforderlichen Sicherheit“ nachweisen ließe, dass die Erschießung von 560 Menschen – überwiegend Frauen und 116 Kinder, das jüngste gerade einmal 20 Tage alt – eine von vorneherein geplante und befohlene Vernichtungsaktion gegen die Zivilbevölkerung gewesen sei. Die Begründung der Stuttgarter Ermittler klingt für die Opfer wie ein Verhöhnung, wenn weiter ausgeführt wird, es „besteht nämlich auch die Möglichkeit, dass Ziel des Einsatzes ursprünglich die Bekämpfung von Partisanen und die Ergreifung arbeitsfähiger Männer zum Zweck der Verschleppung nach Deutschland war“, als handle es sich bei diesem Motiv um ein legitimes Ziel und kein abscheuliches Kriegsverbrechen. Da wundert einen auch nicht, dass die gleiche Ermittlungsbehörde noch im August 2012 gegenüber den Stuttgarter Nachrichten Zweifel an der Nachweisbarkeit von Mordmerkmalen wie „Grausamkeit oder niedriger Beweggründen“ äußerte und von daher eher lediglich Totschlag in Betracht käme, der 1960 bereits verjährt sei. Nun will Oberstaatsanwalt Bernhard Häusler gar nicht erst verhandeln lassen. Insgesamt liest sich die Begründung dieser „Ermittlung“ vielmehr wie eine vom Steuerzahler finanzierte tadellose Verteidigung der in Italien mehrfach verurteilten Mörder, nicht wie die Anklageschrift einer Staatsanwaltschaft. Seitenlang wird über militärische Überlegungen gemutmaßt, kaum werden die barbarischen Taten benannt oder gar deren Hergang beschrieben. Aussagen der SS-Angehörigen werden als glaubhaft eingeordnet, die der Opfer werden hingegen in Zweifel gezogen oder erst gar nicht berücksichtigt.
Enio Mancini steht auf dem Platz vor der Kirche von Sant‘ Anna, auf dem 132 Bewohnerinnen und Bewohner erschossen und danach verbrannt wurden. Er selbst überlebte das Massaker als siebenjähriger Junge. „Das höre ich seit Jahrzehnten“ sagt er in dem er auf die Erklärung der Stuttgarter Ermittlungsbehörden deutet, „dies ist exakt die Argumentation der italienischen Faschisten. Bis heute“. Er führt aus, dass bereits die erste Aktion am 12. August 1944 der vorrückenden SS-Soldaten nachts um 4 Uhr die Erschießung des Pfarrers von Molino, einem Weiler von S. Anna, mit seiner ganzen Familie war. „Das ist doch Unsinn, dass sie Partisanen gesucht haben“ antwortet er empört. „Längst von Historikern widerlegt“ ergänzt er. Die SS sei aus vier Richtungen nach S. Anna vorgerückt um systematisch die Menschen, um alles zu vernichten. „Du schießt doch nicht auf Kinder, wenn du Partisanen suchst!“, so Mancini.
Adele Pardini war 4 Jahre alt als sie am Morgen des 12. August 1944 an der Seite ihrer Mutter, ihrer Schwestern und einigen Nachbarn an die Wand ihres Stalles gestellt wurde. Darunter auch ihre Schwester Anna, die gerade 20 Tage alt war. Adele Pardini überlebte mit einem Streifschuss. Sie hätte es wichtig gefunden, dass ihre Aussagen gerade vor einem deutschen Gericht gehört würden. „Dann können die Richter ja erst darüber nachdenken“, ergänzt sie.
„Absurd und arrogant“ findet der eingangs erwähnte Enrico Pieri die Ermittler in Deutschland und ihre Stellungnahme. Pieri überlebte mit 10 Jahren als einziger seiner Familie die Salven der Maschinengewehre durch die Fenster der Küche und den danach gelegten Brand im Haus. Wie er, können viele hier nicht verstehen, dass die italienische Ermittlungsarbeit nichts wert sein soll. Auch die Anwältin Claudia Buratti wundert sich über ihre deutschen Kollegen. Sie war von 2003 bis 2007 an allen Verhandlungstagen in Italien anwesend, die in drei Instanzen zum Urteil „Mord“ führte. „Wie kann es sein, dass drei italienische Gerichte nach umfangreicher Ermittlung zum Schuldspruch kommen und es in Deutschland bei gleicher Aktenlage nicht einmal zu einer Anklage reichen soll?“, fragt sich die Juristin.