Übersetzung eines fünfspaltigen, halbseitigen Artikels aus der nationalen italienischen Tageszeitung „La Stampa“, Torino, vom Sonntag, 9. Dezember 2012, Seite 20, auf der zweiten von insgesamt zwei Seiten, oben, des Teils „Lokalchronik“ Übersetzung aus dem Italienischen von Gunther Leibbrand, 10.12.12- Hier klicken für das Video über das Treffen auch von Niccolò Zancan, der uns seinen Artikel zur Veröffentlichung freigegeben hat. Hier geht es zur Übersetzung Filmtext La Stampa-Video als .doc
Reportage von Niccoló Zancan, nach Sant’Anna di Stazzema entsandter Journalist
Nach Sant’Anna di Stazzema kamen Deutsche, die nicht vergessen
„Die Nazis richteten ein Blutbad an, aber in Deutschland zieht man das Schweigen darüber vor“
Dann stockt die Stimme. Mit Tränen in den Augen und Lippen, die zittern. Gunther Leibbrand, dreiundsechzig Jahre alt, Krankenhauspfarrer in Stuttgart, erklärt seine Motive: Mit acht Jahren vertraute mir meine Mutter an, was sie von unserem Cousin im Krieg erfahren hatte. In seiner Division hatte die SS Fußball mit dem Kopf eines Juden gespielt. Herr Gunther reibt sich die Augen mit enormen Händen, bemüht sich aus dem Alpdruck herauszukommen, aber das braucht etwas Zeit. Zusammen mit einundvierzig anderen deutschen Staatsbürgern steht er vor dem Denkmal für die Gefallenen von Sant’Anna di Stazzema, 560 unschuldige Opfer, von den Nazis grausam niedergemetzelt am Morgen des 12. August 1944. Sie haben einen Bus gefüllt und sind zwölf Stunden gereist. „Wir wollen unsere Empörung zum Ausdruck bringen“, sagt Gunther, „wir sind nicht einverstanden mit der Staatsanwaltschaft Stuttgart. Man kann die Kriegsverbrechen nicht ungesühnt archivieren. Wir dürfen unsere Geschichte nicht vergessen. Leider ziehen in Deutschland viele das Schweigen vor…“
Ein besonderer Tag, hier sechshundert Meter über dem Meer, am Horizont sieht man Marina di Pietra Santa. Der achtundsiebzigjährige Enrico Pieri, der das Blutbad überlebte, umarmt Herrn Gunther. „Ich rettete mich, indem ich mich in ein Bohnenfeld warf, während um mich alles brannte. Die Nazis benützten die Bänke der Kirche, um die die Arbeit des Flammenwerfers effektiver zu machen.“
Heute tragen die Deutschen bunte Rucksäcke und haben eine Spende zu überreichen. Einige gelbe Anstecknadeln der Vereinigung „Die AnStifter“, die in Stuttgart gegen den Bau eines neuen Bahnhofs kämpft: „Wir engagieren uns für den Erhalt der Umwelt und für den Frieden“ – erklärt die Organisatorin Julia von Staden – „aber vor allem sind wir Personen, die die Entscheidung der Stuttgarter Staatsanwaltschaft für beschämend halten. Für die gleichen Tatsachen hat das italienische Militärgericht zehn deutsche Soldaten zu lebenslänglichen Haftstrafen verurteilt.“ Die einzige weibliche Jugendliche der Delegation ist Leonie Pokutta, vierundzwanzigjährige Studentin. Sie dreht einen Dokumentarfilm.
Sie kommen um dreizehn Uhr an und betreten den Saal des Geschichtlichen Museums des Widerstandes. „Das war einmal meine Grundschule“, erzählt Enrico Pieri, „der Ort wurde für sicher gehalten. Weiße Zone, Weit weg vom Krieg. Geeignet dafür, die von Zwangsräumungen Betroffenen aufzunehmen.“ Diese Vorrede ist notwendig, um das Entsetzen zu verstehen. Dieses ruft Enio Mancini, fünfundsiebzig Jahre alt, ein anderer Davongekommener, zurück. „Sie begannen das Gemetzel im Teilort Vaccareccia. Dann wurden einhundertzweiunddreißig andere Personen, davon wenigstens dreißig Kinder, hier vorne zusammengetrieben. Nachdem sie mit der Erschießung fertig waren, zerstörten die Nazis die Orgel der Kirche und warfen Bomben. Dann brachten sie die kleine Schwester von Siria Pardini um und schossen in die Wege hinein wie bei einer Treibjagd. Grausam ermordeten sie die Müller, auch die Jugendlichen, die sich in die Mühle geflüchtet hatten. Elio Toaff, später Rabbiner von Rom, war ein Kind wie ich. Es verwirrte ihn das Bild von einer Frau, die unbeweglich am Ausgang eines offenstehenden Hauses saß. Es verwunderte ihn, sie so ruhig zu sehen. Er entdeckte, dass die Nazis an ihr einen Kaiserschnitt nach ihrer Art vorgenommen hatten. Sie hatten auch auf den Fetus geschossen, der ermordet worden war, bevor er zur Welt kam…“
Frau Sieglinde Adam de Rivandeira, pensionierte Wirtschaftswissenschaftlerin, macht sich Notizen auf Italienisch. Auf den Block hat sie geschrieben: „Gemetzel“. Aber dann hält sie inne. Schreibt nicht weiter. Ihre Freundin, Erika Hauff Cramer, sagt: „Ohne Geschichtsbewußtsein kann es für unsere Kinder keine Zukunft geben. Aber die Deutschen verdrängen.“ Marianne Winneman, Soziologin an der Universität Bochum: „Gruppen der extremen Rechten sind dabei wiederzukehren. Die Gefahr ist enorm…“ Sie hat sich dafür ntschieden, ihr entgegenzutreten, indem sie vor und zurück von Stuttgart her unterwegs ist: „Im August habe ich fünfundzwanzig Studenten hierher gebracht. Sie müssen wissen“. Sie müssen wissen, dass Enrico Pieri sich gerettet hat, weil er als jemand, der oft die Herde auf die Weide gebracht hatte, die Hügel kannte wie niemand sonst. Sie müssen wissen, dass Enio Mancini sein Dasein einem jungen Nazi-Soldaten verdankt, der in die Luft geschossen und ihn angebrüllt hatte, dass er verschwinden solle: „Mein ganze Leben lang schon suche ich ihn, um ihm zu danken“. Fast schon geht die Sonne unter, als eine junge Deutsche dort eine Klage für Violine und Gesang anstimmt, wo die Kinder von Sant’Anna ihr Ringelreihn gespielt hatten. Enio umarmt Gunther. Noch einmal. Fast entschuldigt er sich für all den hervorgerufenen Schmerz: „Danke für diese Reise, ich habe euch gern. Ich liebe das Leben. Habe ein Emigrantenleben geführt, meine Tochter hat Deutsch gelernt, ich hätte gerne ein Europa, das stark, wahrhaftig und geeint ist. Alle zusammen. In Frieden. Das ist mein Traum“.