Unser „Wetterer“ wird 75. Da gratuliert die Kontext-Redaktion ganz herzlich. Und mit ihr Oskar Negt, Philosoph, prominenter Vertreter der Kritischen Theorie, langjähriger Weggefährte und Freund von Peter Grohmann. „Lieber Peter“, schreibt er, „Menschen Deiner Art haben wir zu wenig.“
Lieber Peter,
bei näherer Betrachtung Deines Lebensweges kommt mir der Gedanke, dass unsere Biografien große Ähnlichkeiten aufweisen. 1961 Ausschluss aus der SPD, seitdem ein freies und unbefangenes Verhältnis zu dieser Partei. Kampf gegen Atombewaffnung, gegen Notstandsgesetze, aktive Beteiligung an der Protestbewegung Ende der sechziger Jahre: Plakatgruppe und Sozialistisches Büro.
Aber Dein 75. Geburtstag gibt mir Gelegenheit, einige Worte zu dem zu verlieren, was Dich als politischen Menschen auszeichnet und was ich stets bewundert habe.
Da ist zunächst die unbändige Lust, den Schlaf der etablierten Institutionen zu stören, indem Du ihnen ganz im Sinne des frühen Marx ihre eigenen Melodien vorspielst – freilich in äußerst schrillen Tönen. „Anstifter“ – welch ein Name für jene Schicht von Menschen, die nicht Ruhe geben! Du hast diesem Wort, das ja in der Nähe von Landfriedensbruch angesiedelt ist, Ansehen und Würde verschafft.
Dabei hast Du jedoch objektive Verhältnisse und Zeitgeist in deine Handlungsstrategie immer einbezogen; das hat Dich davor bewahrt, radikalen Sicherheits- und Wahrheitsversprechen auf den Leim zu gehen, um dann anschließend die Konvertiten-Rolle mit Abschwörungen spielen zu müssen.
Du warst Sozialist und Du bist es geblieben; ich weiß, dass es auch Dir unheimlich war, miterleben zu müssen, dass linke Zeitgenossen, die nie mit dem Stalinismus sympathisiert hatten, jetzt, wo die letzten Reste stalinistischer Erbschaften zusammenbrechen, eilfertig alles mit abräumen, was an Sozialismus und Marx erinnert. Du hast nie Deinen Begriff vom demokratischen Sozialismus, also deine politische Identität, aus der Abgrenzungsrealität gewonnen. Was wir in der DDR und in der Sowjetunion sahen, ist nicht der Sozialismus, den wir im Auge haben. So konnte man darauf verzichten, was wir konkret unter Sozialismus verstehen, präzise zu formulieren.
In der Tat, die Situation ist für uns alle unübersichtlicher geworden. Nehme ich die Zeit des Aufbruchs, vor gut vier Jahrzehnten, als ziviler Ungehorsam wie ein Flächenbrand alle Gesellschaftsbereiche erfasste und manchmal auch alte Herrschaftspositionen erschütterte, gab es noch so etwas wie eine übersichtliche Gliederung der Weltverhältnisse: Erste, Zweite, Dritte Welt. Man wusste im Großen Ganzen, worauf sich Mühe und Arbeit richten können, um aus schwankenden Interessen sichere Motive des Widerstandes zu machen.
Das ist vorbei. Heute kann man sich selbst auf die Feinde nicht mehr verlassen. Die verbreitete Neigung, in klaren Ordnungsbegriffen zu denken, liegt angesichts dieser Situation nahe. Umso bewundernswerter ist Deine Entschlossenheit, den Traditionsbestand der Hegelschen Dialektik zu bewahren und diese rebellische Denkweise lebendig zu halten.
Das Philosophische Café der Anstifter im Geburtshaus Hegels ist wohl mehr als eine symbolische Verankerung jener Denkweise, der Du, im Kontrast zu vielen linkslastigen Weggefährten, die sich rasch dem postmodernen Zeitgeist überantwortet haben, bis zum heutigen Tage die Treue gehalten hast.
Mit guten Gründen. Freilich war Dialektik für Dich nie zu jenem „leblosen Schema“, zur „Tabelle“ heruntergewirtschaftet, wie schon Hegel diese tödliche Versteinerung dialektischen Denkens benannt hat. Solange ich Dich kenne, war für mich Dein Sozialismus-Verständnis immer verknüpft mit einem Schuss Humor, mit Witz und Ironie – was den tristen, durchgängig humorlosen, fantasiearmen Linksanalytikern meist radikal widersprach.
Hier sah ich stets eine große Nähe zu Brecht; die eine Passage in den „Flüchtlingsgesprächen“ könnte auch von ihm stammen. Brecht (Ziffel) sagt da, Hegels Buch ‚Die große Logik‘ sei „eines der größten humoristischen Werke der Weltliteratur. Es behandelt die Lebensweise der Begriffe, dieser schlüpfrigen, unstabilen, verantwortungslosen Existenzen; wie sie einander beschimpfen und mit dem Messer bekämpfen und sich dann zusammen zum Abendessen setzen, als sei nichts geschehen“. Begriffe sind für Dich Griffe, mit denen unterschlagene Wirklichkeit öffentlich gemacht wird.
Gerade heute, da den Menschen auf allen Ebenen ihrer Lebensbedingungen Tag und Nacht das Alternativlose eingebläut wird, schärft Deine Arbeit der Zuspitzung den Möglichkeitssinn; die Dinge zu drehen und zu wenden, bis sie sich alternativen Entwicklungsperspektiven öffnen, wird viel Energie freisetzen, die jetzt verbraucht wird, um es in einem als unerträglich empfundenen Zustand auszuhalten.
Ich beglückwünsche Dich, lieber Peter, zu Deiner geleisteten Lebensarbeit an einem Gesellschaftszustand, den man als ein gerechtes und angstfreies Gemeinwesen betrachten kann.
Menschen Deiner Art haben wir zu wenig.
Mit herzlichen Grüßen,
Dein Oskar Negt