Ein Bündel Widersprüche bitte, aber frisch

Festrede Peter Grohmann zum 5-jährigen Jubiläum der Allmende Stetten/ Museum unter der Yburg

Hochverehrte Festgemeinde,
es ist das erste Mal seit den Bauernkriegen, dass ich wieder zum gemeinen Volk sprechen darf. Daher will ich’s kurz machen. Vorausschicken darf ich: 0,2 % der Deutschen sind blind, der Rest schaut trotzdem nicht hin. Wundert es wen?

Aber vergesst nicht: Wir sind die Guten. Wir sehen alles, wir kümmern uns um alles, wir wollen alles ändern – aber die Unseren kommen noch nicht so recht über die 5-Prozent-Hürde, wenn sie den parlamentarischen Weg wählen. Nicht nur deshalb sind auch die anderen Wege so interessant.

Beim Thema Parlamentarier fällt mir momentan Ehrhard Köhrting ein. Berlins Innensenator – und die waren ja meistens schlimme Finger – ist so gesehen ein Mann mit höherer Erkenntnis, Jurist aus gutem Hause (wer hier heute abend nicht, frage ich Sie, wer nicht!) und ehemals SPD-Linker (wer nicht, frage ich Sie!). Köhrting stellte per Ferndiagnose fest, dass Guantanamo-Häftlinge in Deutschland nicht integrierbar seien. Sie sehen, ich bin mitten in den Bauernkriegen, mitten in der Provinz, mitten bei den Taliban, auch wenn der Herr Köhrting keine provinziellen Lebenswege aufzuweisen hat. Köhrting sagt, dass diese Menschen (immerhin Menschen, sagt er!) die Ideologie der Taliban akzeptiert und für richtig gehalten haben (das haben die Nordamerikaner ja nun auch, wie wir wissen, aber das weiß Köhrting noch nicht).

Dass nun ein Taliban (-Mensch) überhaupt nicht, also nie nie nie, integrierbar ist, das ist eine bahnbrechende Erkenntnis. Köhrting hat sie aus dem Studium der Akten gewonnen, aus den Lebensläufen der Häftlinge. Das sind allerdings keine gewöhnlichen Lebensläufe, und erst recht keine handgeschriebenen, wie sie Ebbe Kögel bei seiner Bewerbung als Werkzeugmacherlehrling beim Bosch abzugeben hatte oder wie ich sie aus meiner Inkubationszeit als Ostzonenflüchtling in die Katholischen Volksschule Zwiefalten kenne. Auch Provinz, nebenbei.

Fälschungen unter Wasser
Es sind, wie die meisten Akten in dieser Sache, allesamt Fälschungen des CIA, geschrieben für die internationale und den Rest an kritischer amerikanischer Öffentlichkeit. Und wo nicht gefälscht wurde – auch das kommt gelegentlich vor – wird gefoltert. Kopf unter Wasser, 24 Stunden Rolling Stones volle Lautstärke, Stiefel in die Eier, paar in die Fresse, wobei das Kunststück darin besteht, so zu foltern, dass man keine Spuren hinterlässt.

Doch zurück zu Herrn Köhrting. Zentral, salbadert der Herr Innensenator im April 2010, sei für ihn nicht, ob man den Häftlingen in Guantanamo Terrorakte nachweisen könne oder nicht, sondern dass sich jeder Ausländer, der in unser Land will, zu den Menschenrechten bekennt. Natürlich meint Köhrting damit keinen jener Staatsmänner, Präsidenten, Könige, Minister, Kanzler, die uns am laufenden Band besuchen und in deren Auftrag „drhoim die Leut sterben“. Oder Menschenrechte mit Füßen getreten werden oder beides, als eherne christliche Regel, wo Folter, Krieg, Prostitution und Vergewaltigung zum Alltag gehören, wo die Herrschenden und Herrschaften persönlich am Waffen- und Drogenhandel profitieren, ihre Konten in der Schweiz haben oder bei der Schwiegermutter. Oder bei der Deutschen Bank.

Also – Köhrting meint diese „Oberen“ natürlich nicht – im Gegenteil! Denn dieser Schinder-
Spezies schiebt unser Land noch jede Menge Kohle in den Arsch, koste es, was es solle.
Hauptsache die Kasse klingelt. Mit Köhrtings intellektueller Hilfe.

Da war, in guten wie in schlechten Zeiten, in solchen Zusammenhängen niemals von Moral
die Rede oder von westlichen Werten oder vom christlichen Abendland oder von Menschenrechten. Da hat man, wenn uns einer jener Mordgesellen besuchte, peinlich geschwiegen und so gut es eben in einer Demokratie ging, der Opposition das Maul zugehalten.

Bei so viel gutem Glauben …
Nun wird aber hier in Stetten wie in Stuttgart niemand erwarten, dass die das mit den
Menschenrechten oder der westlichen Wertegesellschaft irgendwie jemals wirklich ernst
gemeint haben. Wer das denkt, wird ungläubig angeschaut bei so viel gutem Glauben, in
jedem Falle aber mit milder Nachsicht behandelt wie Bischof Mixa, muss aber schneller
zurücktreten.

Unsere Wertegesellschaft – Menschenskinder, das ist allenfalls was für Realschülerinnen,
deren Eltern mit Migrationshintergrund eben den Einbürgerungstest in Waiblingen bestanden haben. Ernst nimmt das ansonsten schon lange niemand mehr. Außer Euch und Ihnen und mir, und da liegt auch der Grund begraben, warum uns alle mit so großen Augen ansehen, ganz verdattert, so, als ob wir gemeinsam an den Weihnachtsmann glauben. Ach, Leute! Das ist doch alles so wie mit den guten Sitten: Man furzt eben nicht in der Öffentlichkeit und wenn, dann so, dass der Verdacht auf die Grünen fällt. Und man rülpst auch nicht bei Tische – jedenfalls nicht, wenn die Freundin noch neu ist. Falls sich jetzt eben mal schnell jemand aufregen will, ich kann gern noch was nachlegen: Beim Essen furzen ist primitiv, aber wenn hochstudierte fromme Mönche Kinder vergewaltigen und das Vernaschen der eigenen Töchter oder Schwestern durch die Väter, Brüder oder den guten Onkel durchaus weit verbreitet ist – genauso wie das Schweigen der Frauen oder Mütter, die allesamt um den guten Ruf der Familie fürchten mehr als um die Seelen.., dann, ja, dann gehen irgendwie auch die schönsten westlichen Werte flöten (und die östlichen gleich mit).

Ob nun in einem Land, mit dem wir Handel treiben, den Menschen die Köpfe oder die Hände abgehackt werden, ist unseren Herrschern in der Regel schnurzpiepegal. Ob Kindersoldaten auf ihresgleichen gehetzt werden, allesamt mit sauberen Mauser-Pistolen aus Oberndorf ausgerüstet, ob der arme Soldat vor seinem Einsatz im Irak die volle Dröhnung auf die Ohren bekommt, damit er nicht vorher schon durchdreht, sondern erst beim Einsatz selbst – Tatsachen, ja, sicherlich, aber ansonsten allenfalls fürs Feuilleton oder politisch engagierte Clubs wie Euren – in der Provinz. Steinigung bei Ehebruch, Hunger- oder Umweltkatastrophen, ethnische Säuberungen (sauber bleiben?), Korruption, Gewerkschaftsverbote, Folter, Erpressung – all das hat in unserer Gesellschaft nie jemanden groß gejuckt – außer Euch.

Rübe runter
Seinerzeit, und das macht es so schwer für uns Landsleute, waren wir ja mitten drin und
meistens direkt beteiligt beim Köpfe abhacken. Unsere Landsleute hatten deshalb kein allzu großes Problem damit, Juden ins Gas zu schicken und Sinti und Roma hinterher und
Kommunisten vornedraus, weil Massenmord und Genozide zur Geschichte des christlichen
Abendlandes gehörten wie die Butter zum Brot und das Salz in die Suppe. Die Zivilisatoren, die Amerika eroberten und die Indianer ausrotteten, taten das im vollen Sendungs-Bewusstsein einer sich christlich verstehenden Zivilisation. Von den Kreuzzügen über die Eroberung Amerikas zum Massenmord an den Hereros und Namas (ein furchtbar alter Hut – wobei sich die Akademiker streiten, ob das nun nur ein Kolonialkrieg oder doch schon bissel so was wie ein Genozid war) – eine Linie mit Jesus, Maria und dem Heiligen Römischen Reich samt allen Protestanten.

Hereros?
Richtig, da gehört der Name Trotha hin. Nach dem von Trotha waren gestern noch Straßen und Plätze benannt, nach den Nazigeneralen Kasernen für die Bürger in Uniform, und für Otto von Bismarck gibt es heute noch wenigstens 1000 Straßen und Plätze in unserer Republik, ein paar Dutzend Schulen, Denkmäler, Brunnen und Pissoirs. „Nicht auf Preußens Liberalismus sieht Deutschland, sondern auf seine Macht. Nicht durch Reden und Majoritätsbeschlüsse werden die großen Fragen der Zeit entschieden, sondern durch Eisen und Blut.“

Eine Pinkelbuden-Denkart, die im Grunde das geistige Subklima in Deutschland bestimmt. Und gegen die wir, jeder in seiner Weise, aufstehn. So wie es bei uns in Stuttgart den Hindenburgbau gibt – nimmerlang, wie wir hoffen, soll es bei Euch bald die Obergaß geben. Ach, Leute, – wir sind ein demokratischer Rechtsstaat und tragen schwer an den Bürden, die die Vergangenheit der Demokratie aufgehalst hat. A jeder hat halt sei Päckle zom trage, sagt man hier im Süden. Manchmal ist es eher ein Paket, also ein Pack, was mich gern an meine Jugendzeit erinnert, als ich mit dem Fahrrädle über die Alb fahren musste, weil’s das Geld für den Bus nicht reichte – Reutlingen – Zwiefalten. Sonst hätte ich, busfahrend, nie das Plakat am Postamt in Honau entdeckt – ein Plakat der bereits lobend erwähnten Sozialdemokraten: „Links die Päckchen, rechts das Pack. SPD“. Brutal, scharf, ehrlich, treffsicher waren die ja damals wirklich, oder? Aber sie haben natürlich nur Spaß gemacht und so jeden Kredit verspielt.

Kredit verspielt, Spiel gewonnen
Wie die Griechen! Was haben wir denen alles geglaubt: Aristoteles, Sokrates, Steinmeier, Perikles, Theodorakis. Theodorakis? Egal, ich hab’ nicht studiert, wie sie alle heißen. Aber eben deshalb erwarten wir Nichtstudierten ja auch von der SPD und den Griechen gewisse
Zugeständnisse. Erstens sollen die gefälligst Waffen und Munition in Deutschland kaufen.
Nein, nicht die Sozialdemokraten, die bewaffnen seit jeher ihre Gegner. Ich spreche von den Griechen – und zweitens sollen die endlich mal aufhören, dieses alte Märchen von den
Wehrmachtsverbrechen und angeblich 1000 zerstörten Dörfern im WK ZWO [2. Weltkrieg]
zu verbreiten. Und drittens sollten sie uns schon ein ordentliches Pfand anbieten – und
ansonsten ganz, ganz vorsichtig sein, sonst landen wir morgen auf Kreta.

Wobei man sehen muss, dass wir gestern bereits gelandet sind – einmal mit TUI und zum
anderen mit dem Kollegen von der Immobilienabteilung der WestLB. Immobilien, die alten
Griechen und Kultur haben nun wirklich nicht viel miteinander zu tun – Kultureinrichtungen
sind bekanntermaßen die Petersilie im Maul des Karpfens – Dekoration halt. Außer, dass
handzahme Kultur durchaus gern gefördert wird. Der Immobilienmakler der LBBW bietet in diesen Tagen vielleicht an den schönsten Stränden Griechenland Bungalows an – für die da oben und uns da unten, denn irgendwie gehören wir ja doch dazu, nachdem es seit Schröder eine klassenlose Gesellschaft gibt. Insoweit wird geraten, nur solide Immobilien zu erwerben – keine Feriensilos, sondern solche, wo noch ganz arg viel von der echten griechischen Kultur erhalten ist: Alte Mauern, vielleicht ein Kloster, bissel was Orthodoxes mit wildem Thymian…

Echt kreativ!
Kultur ist schön. Hier erst lernt man lesen und spielen und denken – zum Beispiel: wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt. Wer nicht lesen kann, dem wird das Lernen zur Qual. Aber wer lesen kann, versteht deshalb noch nicht alles. Das erfahren wir ja selbst immer wieder. So ein echter kreativer Mensch entwickelt mehr Inspiration und politischen Widerstand, mehr Einsatz für das Gemeinsame, die Allmende, als ein kultureller Ignorant (deren Züchtung immer häufiger gelingt). Kultureinrichtungen, soziokulturelle Zentren, Initiativen wie Allmende sind „Brücken in die Zukunft“. Sie werden neugierig dadurch, dass sie nicht alles wissen: Wie schön, noch auf der Suche zu sein! Sie bleiben unterwegs, weil sie nie recht ankommen und werden so Teil der ständigen Selbstreflexion. Der eigenen. Und der der Gesellschaft – und die hat das bitter nötig.

Auf vieles, was sich in den kapitalistischen Gesellschaften abspielt, haben wir keinen Einfluss – das entmutigt viele. Dabei übersehen wir zu oft die vielen Möglichkeiten, kritisch und verändernd einzugreifen, zu intervenieren, Protest anzumelden. Das ist mehr als ein Leserbrief. Die soziokulturellen und basisorientierten Akteure haben es dabei nicht leicht. Denn es gilt ja nicht nur, selbst lesen zu lernen – und zu spielen – mit den Gedanken, den Möglichkeiten, den Chancen auf Veränderung – sondern auch zwischen den Zeilen zu lesen. Und auch das reicht nicht -es reicht dann nicht, wenn wir das Gelesene, Erkannte für uns behalten.

Akteure sind wir deshalb alle, die wir uns einmischen und anstiften. Wir sollten uns dabei den Luxus von Träumen und Utopien erlauben, die kalkulierten Niederlagen mit leichter Hand hinnehmen, Möglichkeitsräume und Spielräume schaffen, wo Demokratie und Widerstand gelernt werden. Erkenntnisgewinn. Wir sollen dort sein, wo soziale Verantwortung gekoppelt ist mit Spaß am Engagement – das sind unsere „Korridore und Brücken in die Zukunft“. Für diesen Zukunftsblick müssen wir Gegenmodelle entwickeln, im kleinen Raum, zurückkehren zu politischer Eigenverantwortlichkeit und Autonomie. Wir müssen Begriffe, Symbole und Metaphern [Bilder] für eine andere, bessere Welt vorstellen. Es gibt eine Sehnsucht danach nicht nur unter unsereins. Richtungen zeigen, noch ungenau vermutlich, aber gut fürs Unterwegssein, für alle, die eigenen, aufklärerischen Impulsen folgen und Widersprüche erkennen.

Ein Bündel Widersprüche, bitte, aber frisch
In der Stuttgarter Region, zu der auch Stetten gehört, bündeln sich heute die größten
Widersprüche. Wachstumshoffnungen wie S21, Ansprüchen auf Nachhaltigkeit, Luxus neben Armut. Gerechtigkeitsstreben konkurriert mit Gewinnmaximierung. Inzwischen lässt das neue Bürgertum das alte, klassische Erbe verkommen. Das große Geld macht die Städte ärmer, enthauptet das Vergangene. Eben deshalb graben wir ja da, wo wir stehen. Eben deshalb wissen wir ja, dass es ohne Vergangenheit keine Zukunft gibt. Eben deshalb ist der Herr Hindenburg so wichtig wie die Gestapo.

Weder Hindenburg noch Gestapo sind vom Himmel gefallen, sondern stehen in der Tradition des Abendlands, auch wenn es ein weiter Weg ist von den Kreuzzügen über die Besitznahme des alten Amerika bis zur Besitznahme am Hindukusch. Mit Blick auf die heute wohlfeil gehandelten Horrorszenarien – Terror, Überfremdung, Werteverlust (welche denn?), Umweltkatastrophen, Atomkrieg – ja, der wird wieder ganz groß gehandelt – wenn unsere nicht wären, kämen die anderen in den Besitz von Atomwaffen – mit Blick also auf die Katastrophen der Welt, jene, die sich vor unseren Augen abspielen, jene, die waren und jene, die sich in unsere Seele fressen – entstehen große Unsicherheiten bei vielen Menschen – einerseits, aber auch eine neue Art von „Bedarf an Nachdenken“ über alte und neue Grundfragen von Sein und Bewusstsein.

Die Frage nach dem richtigen Leben in einer falschen Zeit stellen wir nicht. Wir sind realistisch. Und verlangen das Unmögliche. Es ist Zeit, unsere Zeit. Und soviel Spaß muss sein.

Glückauf, Allmende!
Peter Grohmann*
23.04.2010

*Kostenfreier Nachdruck mit Quellenangabe www.die-anstifter.de erwünscht
(vollständiger Text hier als PDF)

Über Peter Grohmann

Peter Grohmann, Jahrgang 1937, Breslauer Lerge, über Dresden auf d' Alb, dann runter nach Stuttgart: Schriftsetzer und Kabarettist, Autor und AnStifter gegen Obrigkeitsstaat und Dummdünkel. Mitgründer: Vom Club Voltaire übers undogmatische Sozialistische Zentrum, vom Theaterhaus zu den AnStiftern. Motto: Unruhe ist die erste Bürgerinnenpflicht. Was ärgert Grohmann? Alle, die den Arsch nicht hochkriegen, aber dauernd meckern. Und an was erfreut er sich? An Lebensfreude und Toleranz