Diese Orte des Gedenkens, über die man stolpern und innehalten kann, gehen auf ein Konzept des Kölner Künstlers Gunter Demnig zurück. Die 10x10x10 cm großen, mit Messingschildern versehenen Steine werden in die Gehwege vor der letzten Wohnung eines von den NS-Schergen Verfolgten eingelassen. Sie tragen Namen, Lebensdaten und Schicksal der Opfer. Ihnen soll ihr Name, ihre Individualität zurückgegeben werden. Es soll deutlich werden, dass es sich um Menschen aus der Mitte von Gemeinden, aus der Nachbarschaft handelt, die auf Grund ihrer erlittenen Diskriminierung, Unterdrückung und Vernichtung die Kollektivgeschichte, in diesem Fall der Homosexuellen geprägt haben. Für uns als Nachgeborene hat Th. W. Adorno das Ziel von Erinnerungskultur derart formuliert: „Die Ermordeten sollen nicht noch um das einzige betrogen werden, was unsere Ohnmacht ihnen schenken kann, das Gedächtnis“.
Für CSD-gewöhnte Augen ist es schwer vorstellbar, dass es das heutige vielfältige, identifikationsstiftende Informations- und Kommunikationsnetz für Schwule und Lesben in den Jahren 1933-45 mitnichten gab. Mit der Machtergreifung der Nazis wurde innerhalb kürzester Zeit die homosexuelle Freizeit- und Begegnungskultur sowie die Einrichtungen der Reformbewegung, die in der Weimarer Zeit am Erblühen waren, zerschlagen. Die Strafgesetzgebung zum § 175 wurde mehrfach verschärft, außerdem wurde die Verfolgung von „Sittlichkeitsvergehen“ mittels Schutz- und Vorbeugehaft ohne ordentliches Gerichtsverfahren möglich.
Die Antihomosexuellenpolitik der Nazis vermutete hinter jedem Homosexuellen im Sinne eines Seuchenherdes weitere „Verführte“, die sich laut Himmler in „Kristallisationspunkten“ des Ekels wie z.B. auf dem Bahnhof trafen. So geriet das gesamte Lebensumfeld ins Visier der Fahnder. Es drohte ständige Gefahr, denunziert zu werden. Die Homosexuellen waren, um nicht in die Justizmühlen zu geraten oder existentiell am Arbeitsplatz/ihren Wohnungen bedroht zu werden, gezwungen, ihre Existenz unsichtbar zu machen.
Die Stolperstein-Recherche nach homosexuellen Opfern setzte daher mit der Frage ein, wo denn aus der Nazizeit biographische Zeugnisse über Menschen zu finden sind, die homosexuell gelebt haben. Keiner konnte offen sagen, ich bin es. Die „Datenarchäologie“ wurde in unzähligen Archiven, Gedenkstätten von KZs, dem Internationalen Suchdienst in Arolsen, bei Historikern, Bibliotheken, Ämtern usw. betrieben. Der Nachweis von Wohnorten war oft nicht möglich, weil Einwohnermelderegister nicht mit der Stringenz geführt wurden wie heute. Behörden vernichteten zum Kriegsende ihre Dokumente selbst, und die Bombenangriffe taten ein Übriges. Homosexuelles Leben in der NS-Zeit scheint für einen heute Forschenden in einer Art Bermudadreieck zu verschwinden.
Zwangsläufig ergaben die Daten aus Justiz und Verfolgung das Bild von kriminellen Karrieren, die in Wirklichkeit Opferkarrieren waren. Der dadurch entstehende einseitige Blickwinkel konnte bis auf wenige Fälle nicht mit alltäglichen, biographischen Geschehnissen abgerundet werden. Zwischen den endlosen detailreichen Beschreibungen der sexuellen Vergehen in den Verhören der Justiz muss man sich immer wieder die Ungeheuerlichkeit klarmachen: Die Homosexuellen gerieten ins Visier der Fahnder, weil ihre sexuelle Identität, ihr Verhalten „als asoziale Triebhaftigkeit mit gemeinschaftsfeindlichen Folgen fixiert und zur Verfolgung freigegeben wurde“ (Peter von Rönn).
Neben der Gesetzgebung funktionierte das „Bermudadreieck“ aber auch deshalb, weil „an der Übereinstimmung zwischen den Machthabern und der Bevölkerung in der Frage der Notwendigkeit der Homosexuellenverfolgung“ (Burkhard Jellonnek) nichts zu deuteln gab. Historiker sehen es als Charakteristikum des NS-Terrors gegen Homosexualität an, dass eine relative Kontinuität mit der Zeit davor und danach besteht: „Die NS-Maßnahmen sind sozusagen Zutaten, die auf die geltende Antihomosexualität draufsatteln“. (Rüdiger Lautmann).
Friedrich H. Enchelmayer
Friedrich Hermann Enchelmayer wurde am 13.08.1908 in Stuttgart-Untertürkheim geboren. Der Vater Friedrich Gottlob Enchelmayer, von Beruf Schlosser, fiel im 1. Weltkrieg; die Mutter Marie Sofie Enchelmayer geb. Gassmann, aus einer Weingärtnerfamilie stammend, war dem Lebenslauf des Sohnes nach durch den Tod des Ehemannes nervlich schwer zerrüttet und kränklich. Als Krippenkind und Schüler hielt er sich viel bei Verwandten auf in dem Gefühl, überall zu viel zu sein. Seine Familie beschrieb er insgesamt als einen Ort, indem er nur zum Guten angeleitet wurde. Betteln und Diebstahl kamen bei ihr nicht vor. Sein Bruder Hermann Enchelmayer, von Beruf Koch, schickte zusammen mit der Mutter regelmäßig Briefe an Friedrich ins Zuchthaus Ludwigsburg. Er starb an den Folgen von Kriegsverletzungen 1947.
Friedrich H. Enchelmayer galt als gottgläubig. Er besuchte die Volksschule in Untertürkheim (Cannstatt ?) und wurde als Eisendreher ausgebildet. Im Zuge der großen Arbeitslosigkeit ging er 1929 in die Schweiz. 1932 war er in Ostpreußen in der Landwirtschaft tätig. Von Mai bis September 1936 arbeitete er bei Fa. Fromm, ab September 1936 bei Fa. Misol (heute Trost), beide in Bad Cannstatt.
Vom Landgericht Stuttgart war Enchelmayer am 29.05.1934 wegen vier Verbrechen wider die Sittlichkeit zu einer Gefängnisstrafe von einem Jahr verurteilt worden. Als Grund gab er an, „sexuelle Not gelitten“ zu haben. Nach der Verbüßung begab er sich wegen seiner Homosexualität erfolglos in ärztliche Behandlung und pflegte zwei Jahre eine Beziehung mit Frieda B., mit der er verlobt war. Er musste jedoch erkennen, dass sie nicht zu ihm und seiner Veranlagung passte.
Am Landgericht Stuttgart wurde er dann am 07.12.1937 wegen widernatürlicher Unzucht nach § 175 StGB erneut verurteilt, dieses Mal zu zwei Jahren und einem Monat Zuchthaus. Ihm wurden die bürgerlichen Ehrenrechte für drei Jahre aberkannt. Enchelmayer´s Kommentar zur Verurteilung: Er habe wenig Gelegenheit gehabt, seinem Trieb auf natürliche Weise Raum zu geben. Die Tat sei straf-, aber nicht zuchthauswürdig. Eine Äußerung, die Einblick gibt in seinen inneren Konflikt zwischen sexueller Neigung und dem Versuch, gesetzestreu zu leben. Am 08.12.1939 wurde er aus dem Zuchthaus in Ludwigsburg entlassen.
Danach nahm das Verhängnis seinen tödlichen Verlauf. Die Kriminalpolizeileitstelle Stuttgart machte am 11.04.1940 beim Vorstand des Zuchthauses Ludwigsburg im Rahmen vorbeugender Verbrechensbekämpfung die Anfrage, ob Enchelmayer´s Belassung auf freiem Fuß verantwortet werden könne. Die Antwort vom 17.04.1940 lautete:
„E. ist einschlägig vorbestraft mit einer Gefängnisstrafe von einem Jahr. Bei der letzten Verurteilung zeigte sich, dass E. eine große Gefahr für die heranwachsende Jugend bedeutet. Nach dem ganzen Hergang der Straftaten muss angenommen werden, dass es sich bei E. um einen tief eingewurzelten Hang zu Sittlichkeitsverbrechen handelt. Es ist daher anzunehmen, dass E., der überhaupt ein unbeherrschter Mensch ist, sich auch weiterhin auf diesem Gebiet verfehlen wird. Die Führung während der Strafverbüßung war nicht einwandfrei. E. neigt zu Ungebühr und Widersetzlichkeit. Unter gegenwärtigen Verhältnissen halte ich es für geboten, dass vorbeugende Maßnahmen gegen Enchelmayer getroffen werden.“
Am 01.06.1940 kam E. aufgrund polizeilicher Sicherungsverwahrung ins KZ Dachau. Ab dem 03.09.1940 war er inhaftiert im KZ Sachsenhausen. Bereits am 30.09.1940 wurde er ins KZ Neuengamme transportiert. Er galt als befristeter Vorbeugehäftling und war mit dem Grünen Winkel für Kriminelle markiert. In Neuengamme verstarb er am 09.11.1940. Als Todesursache wurde im Krankenrevier-Totenbuch Herzschlag angegeben. Das ist insofern bemerkenswert, da er ein Jahr zuvor aus dem Zuchthaus als gesund, arbeitsfähig und arbeitswillig entlassen wurde. Wie in anderen Fällen ist jedoch davon auszugehen, dass die Arbeits- und Lebensverhältnisse im Lager als eigentliche Todesursache gelten müssen, da sie die offizielle Todesursache erst herbeigeführt haben.
Willi Karl App
Willi Karl App wurde am 29.09.1919 in Stuttgart geboren. Er hatte die deutsche Staatsbürgerschaft und war ledig. Sein Vater hieß Karl App und ist gleichfalls in Stuttgart geboren. Die Mutter hieß Rosa Helene App geb. Hermann. Willi Karl App arbeitete als Taglöhner/ungelernter Arbeiter oder Schreiner. Als Wohnorte sind in Stuttgart bekannt:
Hauptstätter Straße 106 B (laut Meldekartei vom 28.2.-30.07.1940). Er wohnte dort zur Untermiete bei Metzger Erwin Gengenbach.
Leonhardsplatz 15 III. Hier haben laut Stuttgarter Adressbüchern von 1911 bis 1919 der Schreiner Johann App und die Weißnäherin Louise App gelebt, möglicherweise ältere Verwandte vom Vater Karl App. Dieser war vermutlich nach dem Tod von Louise eingezogen und hatte nach dem Ableben von Johann die ganze Wohnung übernommen. Da der Vater Karl App laut Adressbuch von 1922-1941 am Leonhardsplatz 15 III wohnte, und das vermutlich beide Elternteile, können wir davon ausgehen, dass der Sohn Willi Karl den Großteil seiner Kindheit und Jugendzeit hier verbracht hat.
Willi Karl App muss sich laut Einwohnermeldekartei auch einige Zeit außerhalb Stuttgart´s aufgehalten haben. So war er am 28.09.1938 aus Heidenheim/Bayern (einem kleinen Ort in Mittelfranken in der Nähe von Ansbach) nach Stuttgart zugezogen.
Was den Verfolgungsweg angeht, so ist bekannt, dass er am 27.10.1942 im KZ Dachau mit der Häftlings-Nr. 37645 eingeliefert wurde. Am 10.11.1942 war er im Transport vom KZ Dachau ins KZ Sachsenhausen, wo er als Aso 175 (Asozialer) geführt wurde. Dort verstarb er 23jährig am 14.03.1943 laut Sterbebuch Sonderstandesamt Arolsen.