Liebe Bürgerinnen und Bürger,
zunächst muß ich Ihnen erklären, dass ich hier für mich spreche. Alles, was ich Schlimmes sage, ist meine persönliche Meinung – anders etwa als bei Herrn Hilsewig, der nur für die Bahn sprechen dürfte, wenn er sprechen dürfte, und der sich jedes Wort absegnen lassen muß und der privat gefälligst die Schnauze halten muss und nichts zu sagen hat, weil er keinen Hintern mehr in der Hose hat.
Ich spreche also nicht für Die AnStifter zu Ihnen, denn die haben, wie Sie wissen,
vollkommen unterschiedliche Auffassungen. Die einen sind wie unser AnStifter Guido Westerwelle mehr oder weniger für Sozialismus, andere haben es als Hartz-4-Empfänger zu etwas gebracht, wieder andere sind für die Tieferlegung des Rathauses und die Versenkung des Fernsehturms – und einige unserer christlich-sozialdemokratischen AnStifter stecken vielleicht hinter dem Diebstahl der U-Bahn-Bügel in Köln oder sparen zuviel Beton, was sich dann nicht. Ich trau uns alles zu.Das Schöne an uns sind also die vielen vollkommen persönlichen Meinungen, ein feines Abendmahl bei Loretta und dass wir immer montags hier sind und aufpassen, dass die Meinungen auch unterschiedlich bleiben, keine Gewalttaten passieren, obwohl ich persönlich da anderer Meinung bin, aber eben als Kabarettist, nicht als AnStifter.
In diesen Sinne freue ich mich auch mit Ihnen auf eine faktenreiche Veranstaltung
am 24. Februar – ein neutraler Abend im Theaterhaus, bei der Stuttgart 21 auf Herz und Nieren geprüft werden soll. Laßt Fakten sprechen.
Ich lebe seit mehr als 50 Jahren in Stuttgart. Es ist eine sympathische Stadt, voller Kraft und voller Leben. Heimat für Menschen aus aller Herren Länder. Es ist auch meine Stadt.
Eine Stadt voller Charme, halbwegs demokratisch, mit liebenswerten Winkeln und Plätzen, umgeben von Wald und Reben.
Aber – Stuttgart hat sich verändert. Es wollte, was viele Alte wollen: Jünger werden –
auf Teufel komm raus! Es hat sich Bäder und Massagen verschrieben, es hat nix genutzt!
Stuttgart hat sich jedes Jahr eine neue Frisur verpassen lassen – es hat nix genutzt.
Stuttgart ist dem letzten Modeschrei hinterher gerannt, um noch größer zu werden, noch schöner, noch jünger, noch schneller. Es hat nix genutzt
Wenn man ein Weilchen weg war wie ich, dann sieht man besser als jene, die gen-manipulierte Tomaten auf den Augen haben, was die Stuttgarter Kur alles angerichtet hat. Da merkt man plötzlich, dass all diese Schönheitsoperationen nichts genutzt haben,
dass die vielen Herzschrittmacher für’s neue Herz Europas versagen, dass die verschriebenen Pillen allesamt Placebos sind und daß die Pflaster nicht einmal Trostpflaster sind, die man euch über die Augen klebt.
Wenn Stuttgart seine Muckis zeigt oder mit dem Arsch wackelt, dann wissen wir:
Das ist nicht Natur – das ist Silikon. Die Implantate versagen und werden abgestoßen.
Doch schaut selbst, was die Herren aus Eurer Stadt, aus unserer Stadt gemacht haben – und misstraut ihnen!
Sie lassen ihre Denkmale verkommen, sie haben das Kronprinzenpalais abgerissen,
und das weltberühmte Kaufhaus Schocken den Baggern zum Fraß vorgeworfen!
Sie haben den Schloßplatz amputiert und den Königsbau verstümmelt. Sie wollen mit aller finanziellen Gewalt das Hotel Silber niedermachen, um der eigenen Vergangenheit zu entkommen. Misstraut Ihnen!
Nur Bürgerprotest hat verhindert, daß die ehrwürdige Markthalle nicht dem Erdboden gleichgemacht wurde, nur Ihr, die Bürgerinnen, habt verhindert, daß der Schillerplatz ein Parkplatz wurde!
Sie haben Stuttgart gevierteilt und autogerecht gemacht und der Bahn den Laufpass gegeben – unserer Bahn! Denn wir sind ihre Freunde.
Sie nehmen billigend in Kauf, daß die Menschen in der Hohenheimer Straße oder am Neckartor an Lungenkrebs erkranken – weil die Stuttgarter Lunge die schwärzeste Lunge Europas ist. Ihre Gifte und Pestizide nennen sie vornehm: Feinstaub. Sie wissen, dass allein in der Schweiz jedes Jahr 3 700 Menschen an den Folgen der Luftver schmutzung
elend krepieren* (Quelle: Schweizerisches Bundesamt für Umweltschutz) – aber sie lassen sich nur durch Prozesse und Gerichtsurteile zum Handeln zwingen!
Ein wenig Schutz, ein wenig Trost bieten den Menschen im Stuttgarter Kessel die rund 300 großen alten Bäume im Park – jene Bäume, die abgehackt werden sollen – verhindert es! Denn das ist so, als ob man den Menschen, die da leben, weil sie da leben müssen, eine Hand abhackt. Sie jagen die Menschen unter die Erde, durch versiffte Unterführungen, in denen die Lichter ausgegangen sind, weil der Stadt das Geld für Glühbirnen fehlt. Sie verstecken ihre Straßenbahnen in Tunnels, damit die Autos freie Sicht auf Wald und Reben haben. Sie drehen den Frischluftschneisen den Hals zu – und husten sich im Tal zu Tode.
Aber irgendwann muß in der Stadt Hegels und Schillers, Freiligraths und Herweghs
der Gedanke zur Tat werden. Denn, wenn die die Menschen erkennen, dass die sichere Zukunft nicht unter der Erde liegt, sondern darüber, in der Sonne, und dass es keinen Sinn macht, sich zu verkriechen: Die Menschen werden erkennen, daß es sich nicht lohnt, 100 Kilometer lange Lärmschutzwände in die Landschaft zu pflanzen, aber Turnhallen und Sozialstationen verkommen zu lassen, und daß Gewalt erntet, wer die Jugend ohne Zukunft läßt!
Sie werden erkennen, dass Geschwindigkeit für die Katz ist, wenn sie zu Zehntausenden im Stau stehen, wenn die Bahnen in den Tunnels stehen bleiben, weil Eisenbahnbrücken und Schienennetze und der öffentlichen Verkehr nicht recht saniert wurde. Die Menschen werden erkennen, daß man ihnen nicht nur die Bäume und die Blumen und den Park stehlen will, sondern auch Heimat, Sicherheit, Identität!
Das Klima, das heute und morgen vor die Hunde geht, das haben auch w i r verändert
durch unseren Größenwahn: Größer, schneller, besser und tiefer als Europa!
Die Menschen werden erkennen, dass das kein gutes Spiel ist, dass man da mit ihnen spielen will. Denn die Karten sind gezinkt beim 17 und 4.
Hier geht’s weder um Ökologie oder eine moderne Bahn – da sind wir dafür, mit aller Kraft – hier geht’s um Profit! Hier geht’s um Boni, um dicke Aufträge, um Grundstücksspekulation! Und wenn man 4 000 Menschen aus Osteuropa zu Billiglöhnen herkarren will, geht’s auch nicht um Arbeitsplätze, liebe IG Metall – es geht’s ums Geschäft
Schaut die Pläne für die sterilen Viertel an, die Euch die Zechpreller und Zocker
vor die Nase setzen wollen – kümmerliche und profane Einkaufstempel, Null-acht-fuffzehn
mit Pfusch am Bau, wenn die Eisenbügel geklaut werden, weil der Lohn zu mickrig ist.
Schaut auf die großen Konzerne, die die Banken, auf das Vermögen – und vor allem auf
das Unvermögen der Bankräuber, Verlierer und Versager! Schaut hin, wie schlecht sie gerechnet und gewirtschaftet haben die letzten Jahre, von der Hypo Real bis zur BW-Bank, und wie mies ihre bezahlen Kontrolleure sind. Misstraut den Blindgängern!
Denn die Partner der Welt werden zum Partner der Unterwelt, das Herz Europas wird zum Scherz Europas: Eine teure Operation! Wenn es zum Kollaps kommt, sind die Herren längst über den Jordan.
Deshalb grüße ich heut die Aufsässigen, die Alten und die Jungen vorn dran, alle, die sich zwischen Wald und Reben und Hängen und Würgen nicht das Maul verbieten lassen, die Menschen mit den verschiedensten Ansichten und Meinungen: Erobert Eure Stadt!
Ich grüß’ Friedrich Schiller, der aus Stuttgart floh und seine Lieder anderswo sang, aber ich sag’ Euch: Wir bleiben hier! Wir bleiben oben!
Ich grüß’ Georg Friedrich Herwegh, der 1839 von Stuttgart in die Schweiz floh, weil er einen königlich württembergischen Offizier beleidigt hatte. Beleidigt die königlich württembergischen Offiziere von heute! Wir bleiben hier! Wir bleiben oben!
Nachsatz:
Prüft mit uns AnStiftern auf Herz und Nieren, was sie uns da aufgetischt haben – am Mi, 24. Februar im Theaterhaus um 19 h, mit Sascha Behnsen und Rafael Ryssel, mit einem Bahnexperten, mit Michael Holzhey und Harald Kirchner – kommt ins Theaterhaus und informiert Euch über die Fakten. Und wenn Ihr Lust habt, kommt vorher ins Theaterhaus – zum Politischen Aschermittwoch.
Peter Grohmann
Rede von Peter Grohmann am 15. Februar 2010, 18 h
Kundgebung am Stuttgarter Hauptbahnhof. Es gilt das gesprochene Wort.
Frei zur Veröffentlichung
bravo, peter grohmann!
man würde sich noch mehr beteiligung von stuttgarter kulturschaffenden wünschen. nicht zuletzt auch vom staatstheater, der oper, den museen, von rundfunk, fernsehen, literaturhaus.
hier der film auf youtube: http://www.youtube.com/watch?v=GT5N6ZRr0TQ
und schuttgart 21 auf flickr:
http://www.flickr.com/photos/8mobili/sets/72157623218023405/