Realität ist die Beeinflussung unserer Sinne, um uns etwas wahr erscheinen zu lassen. Irgendwann haben wir uns Realität geschaffen und bewegen uns in ihr und glauben, dass dies nun wirklich so sei. Der Mechanismus der gesellschaftlichen Realitätskonstruktion funktioniert genauso. Irgendwann laufen wir herum und hören auf, Dinge zu hinterfragen, uns zu hinterfragen. Und den Handlungen derjenigen, die so leben, fehlt es dann meist an Konsequenz.
Gestern war ich auf einer Feier. Vor der Tür gab es plötzlich Streit zwischen einem Pärchen. Die Frau ging mit einer Flasche auf den Mann los, fuhr ihm durchs Gesicht, Rücken, Bauch und stach dann noch auf ihn ein. Der Junge war voller Blut, kämpfte um sein Leben, das in Stößen aus ihm herausströmte. Irgendwann kam dann endlich ein Krankenwagen, die Leute auf der Feier haben zugeschaut, einige betroffen, andere machten irgendwelche makabren Kommentare. Danach ging die Feier weiter. Das ganze war an einem ‚alternativen‘ Ort.
In meinem letzten Beitrag hatte ich bereits geschrieben, dass die Leute und die Gesellschaft überhaupt mir sehr abgestumpft vorkommen. „Einer mehr oder weniger, was soll’s, passiert eh jeden Tag.“ Alles ist locker, gut, alle freundlich – doch die Gesichter können die Trauer, den Schmerz und die Gewalt, die sie selbst, die Eltern und Großeltern erfahren und gesehen haben nicht ganz verbergen. Das Land würde wohl in Tränen versinken, sollte sich eines Tages der Moment des Ausdrucks einstellen. Und nur das, glaub ich, ist die einzige Möglichkeit für Kolumbien der Misere zu entkommen: sich zu stellen, sich selbst und der Geschichte des Landes gegenüber. Nicht intelektuell, sondern emotional.
Neben der gezwungenen Alles-ist-gut-Haltung gibt es sehr viel Misstrauen, das jeder gegenüber jedem empfindet. Berechtigterweise, generiert durch die Gewalterfahrungen, durch Diebstähle. Zudem weiß man nie, ob der Gegenüber nicht vielleicht mich und meine Äußerungen denunziert.
Paradoxerweise bleibt jeder auf diese Weise, isoliert in einer Familienkollektivgesellschaft, für sich.
Seit einer Woche wohne ich in einem anderen Haus mit sechs Personen. Hier fühle ich mich wohler.
Arbeitstechnisch passiert hier noch nichts. Das ist sehr unbefriedigend. Ich hoffe, dass wird sich ab Donnerstag ändern, wenn Nora und ich Richtung Caucá fahren.
NGOs haben hier übrigens einen sehr schlechten Ruf, da viele Leute die NGOs nutzen, um Geld zweckfremd für sich abzuzweigen. Das ist sehr traurig. So läuft es jedoch auch in unserer Organisation ab. Da werden Gelder nicht an der richtigen Stelle eingesetzt bzw. verschwinden auf Wegen, für die sie nicht vorgesehen waren.
Wir warten nun die Zeit im Caucá ab, dann schauen, wie es in der Einrichtung weitergeht.
(Anm.d.Red.: Arne ist Anfang Herbst 2009 für ein Jahr nach Kolumbien gegangen. Er wollte in einem Projekt für die Resozialisation von Kindersoldaten arbeiten. Vor seiner Abreise war er Gast in der Sendung AnStifterFunken des Freien Radios für Stuttgart. Sein Aufenthalt in Südamerika wird von den AnStiftern unterstützt.)