Kollektive Identitäten statt Individualität und Universalismus – zum schwierigen Umgang mit Diversität in unserer Einwanderungsgesellschaft

Mi, 17. Juli 2024, 20:00 Uhr
Experimentierraum, Katharinenstraße 21D Suttgart-Mitte, Stuttgart
Veranstalter: transkulturelles forum e. V.
Wichtiges:

Vortrag von Gari Pavković & Diskussion
Individuelle Grundrechte und universelle Menschenrechte sind integrationspolitische Leitprinzipien in Deutschland. Diese Wertebasis ist im Grundgesetz verankert, dessen 75-jähriges Bestehen wir dieses Jahr gefeiert haben. Der Gleichbehandlungsgrundsatz des Grundgesetzes gilt für alle Menschen in Deutschland und nicht nur für deutsche Staatsangehörige. Zugleich gibt es immer noch ein Verständnis von Deutschland als einer Kulturnation, bei dem die Zugehörigkeit über deutsche Abstammung definiert wird und bei dem die Eingewanderten nur unter Vorbehalt zum „gemeinsamen Wir“ gezählt werden, wenn diese eine nicht näher definierte deutsche Leitkultur akzeptieren.

Trotz des gesetzlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes erfahren Menschen aufgrund bestimmter Merkmale wie Geschlecht, Hautfarbe, sichtbare Religionszugehörigkeit (jüdisch, muslimisch) Diskriminierung und Ausgrenzung. Dies hat dazu geführt, dass strukturell benachteiligte Teilgruppen sich durch Selbstorganisation emanzipieren und für ihre gleichberechtigte Teilhabe engagieren.

Schwierig wird es, wenn Teilgruppen der Gesamtbevölkerung die exklusive Meinungshoheit für ihre Belange einfordern: Nur Frauen, nur Schwarze Menschen/ People of Color usw. dürfen ihre Interessen vertreten, weil privilegierte weiße Männer wegen Machterhalt per Definition diskriminierend seien. In dieser neuen Identitätspolitik werden homogene kollektive Identitäten konstruiert, die es de facto so nicht gibt.

Im globalen Kontext werden ganze Nationen als weiß (= Unterdrücker) definiert wie bspw. die kulturell diverse israelische Nation. „Staatstragende“ Institutionen hierzulande grenzen andererseits selbst israelische Kritiker der derzeitigen israelischen Regierung aus, um nicht unter Antisemitismusverdacht zu geraten. An Stelle einer demokratischen Streitkultur, die auf die Überzeugungskraft besserer Argumente vertraut, geht es nur noch um die richtige Gesinnung aus der Sicht der jeweiligen Teilgruppe.

Die These des Referenten ist, dass sowohl die alten deutschnationalen als auch die neuen (meist linken) Identitätspolitiken in der derzeitigen Ausprägung eher zur Spaltung als zur Integration führen. Die Tatsache, dass die meisten Menschen verschiedene Gruppenidentitäten haben und nicht auf einziges Merkmal reduziert werden wollen, wird zunehmend ignoriert.
Brauchen wir einen neuen „radikalen Universalismus“ (Omri Boehm)?

In der pluralen Einwanderungsgesellschaft sind die jeweiligen Teilgruppen mehr oder weniger von der eigenen kollektiven Herkunftsidentität geprägt, die in der eigenen Community durch entsprechende Narrative an die nächste Generation weitergegeben werden. In der offiziellen Erinnerungskultur sind verschiedene kollektive Geschichten stark unterrepräsentiert (der Einfluss des Kolonialismus auf Schwarze Menschen) oder sie werden auf wenige historische Zeitspannen reduziert (bei der jüdischen Bevölkerung v.a. auf den Holocaust). Bei Ostdeutschen wird die DDR-Geschichte überwiegend negativ konnotiert. Die Frage ist, was unsere gemeinsame Geschichte ist, die uns bei aller Unterschiedlichkeit verbindet – über die gemeinsame Landessprache und die deutsche Verfassung hinaus.

Im Verein Transkulturelles Forum Humboldt 7 e.V. beschäftigen wir uns auch mit der Frage, inwieweit wir altes und neues Wissen aus anderen Kulturen in den weiteren gesellschaftlichen Entwicklungsprozess einbinden können. Wenn wir die Kernelemente einer deutschen Leitkultur definieren würden, würden wir erkennen, dass das meiste davon irgendwann „Import“ aus dem Ausland war – vielleicht abgesehen von der Mülltrennung.

Die kulturelle Entwicklung wurde schon immer vom Kulturaustausch bestimmt, also von einer kulturellen Aneignung (im positiven Sinne des Begriffs). Der Schwerpunkt dieser zweistündigen Veranstaltung liegt auf einem offenen Austausch der Teilnehmenden nach dem dialogischen Prinzip. Das komplexe Thema der Identitätspolitik können wir nur anreißen, mit Empfehlungen, wie ein weiterer Austausch darüber stattfinden könnte, sofern erwünscht. Ein mögliches Format ist der Ansatz „Meine – deine – unsere Geschichte“ von Harald Stingele und Gari Pavković.

Der Vortragende hat einen biografischen Bezug zu den Themen multiple Identität,
universelle Werte und transkulturelles Lernen.

Wir bitten um Anmeldung: info@transkulturelles-forum.de

Der Experimentierraum der Bürgerstiftung gegenüber dem Züblin-Parkhaus kann nur
eine begrenzte Zahl der Teilnehmenden aufnehmen. Der Eintritt ist frei.

Verschlagwortet mit: Identitätspolitik
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