Laboratorium, Wagenburgstraße 147, 70186 Stuttgart
Veranstalter: Laboratorium und Emanzipation und Frieden e. V.
Über die immense Bedeutung des Pogroms von Lichtenhagen für den Rassismus des wiedervereinten Deutschlands ist man sich – zumindest in der gesellschaftlichen Linken – im Grunde genommen einig. Dass jene Ausschreitungen jedoch vor allem das Ergebnis der antiziganistischen Gerüchte und Ressentiments waren, mit denen Politik und Medien bereits seit 1990 gegen asylsuchende Rumän*innen hetzten und die Debatte über den „Asylkompromiss“ befeuerten, ist weitestgehend unbekannt.
Bereits 1990 wusste man in Zeitungsartikeln und Leserbriefen genauestens zu berichten, wie diejenigen, denen unter der rassistischen Fremdbezeichnung ‚Zigeuner‘ ein kollektives So-Sein zugeschrieben wurde, so seien: In einem Artikel hieß es gar, sie hätten die durch Steuergelder finanzierten Möbel der ZASt auf dem Balkon aufgetürmt, daraus ein Lagerfeuer gemacht und eine Möwe gegrillt. Ihnen wurde alles angelastet: Die schlechte Obsternte, das tote Schaf, das im Wald gefunden wurde, jeder Diebstahl im Supermarkt, selbst das flaue Gefühl im Magen, wenn man auf dem Weg zur Arbeit an bettelnden Kindern vorbeigehen musste. Es herrschte Einigkeit in Politik, Medien und unter den Anwohner*innen: Die Asylbewerber*innen aus Osteuropa sollten weg.
Auf der Grundlage einer Auswertung von über 600 Lokalzeitungsartikeln widmet sich der Vortrag einerseits einer sozialpsychologischen Untersuchung jenes Antiziganismus, der die Asylbewerber*innen kollektiv zur Negativfolie der fleißigen und sauberen Deutschen machte. Andererseits soll das Pogrom als konformistisches und massenpsychologisches Phänomen gedeutet werden, hinter dem sich der Wunsch verbarg, endlich wieder richtig deutsch sein zu dürfen.
Die Frage, weshalb die antiziganistischen Dimensionen des Pogroms nahezu völlig unbekannt sind, führt uns auch zur Diskussion der brennenden Aktualität antiziganistischer Zustände. Denn während in Deutschland in Anbetracht der EU-Freizügigkeit über eine vermeintliche „Einwanderung in die Sozialsysteme“ und „Sozialschmarotzertum“ sinniert wird und sich in Städten wie Berlin, Duisburg oder Halle Bürgerinitiativen gegen vermeintliche „Problemhäuser“ gründen, ist eines klar: Sowohl die Gewaltbereitschaft des Antiziganismus als auch die Ignoranz gegenüber dieser findet sich nicht nur am rechten Rand, sie ist in der Mitte fest verankert.
Merle Stöver ist Sozialarbeiterin und Antisemitismusforscherin. Zu ihren wissenschaftlichen und politischen Schwerpunkten gehören Feminismus und die Kritik des Antisemitismus und des Antiziganismus.